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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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Einsatzgruppen erschossen worden wären, dirigierte er den Transport nach dem Lodzer Getto, wo, wie er wußte, bislang noch keine Vorbereitungen für die Vernichtung eingeleitet worden waren, vermutlich weil der Getto-Kommandant, ein gewisser Regierungspräsident Übelhör, Mittel und Wege gefunden hatte, um aus »seinen« Juden erheblichen Profit zu ziehen. (In Lodz wurde übrigens das erste Getto errichtet; es wurde als letztes liquidiert; hier blieben diejenigen Insassen, die nicht an Krankheiten oder Hunger zugrunde gingen, bis zum Sommer 1944 am Leben.) Diese Entscheidung brachte Eichmann in beträchtliche Schwierigkeiten. Das Getto war überfüllt, und Herr Übelhör war weder geneigt, Neuankömmlinge aufzunehmen, noch war er in der Lage, sie unterzubringen. Er war so wütend, daß er sich bei Himmler beschwerte, Eichmann habe ihn und seine Leute mit »Roßtäuschertricks, die er von den Zigeunern gelernt hat«, betrogen. Aber Himmler und Heydrich deckten Eichmann, und der Vorfall war rasch vergeben und vergessen.
    Vergessen vor allem von Eichmann selbst, der ihn kein einziges Mal erwähnte, weder im Polizeiverhör noch in seinen verschiedenen Memoiren. Als ihn sein Verteidiger im Zeugenstand anhand der Dokumente über diesen Vorfall befragte, hielt er daran fest, daß er damals eine »Wahl« gehabt habe:
    »Ich habe hier zum ersten Male und zum letzten Male … zwei Möglichkeiten gestellt bekommen von meinem Chef, und zwar einmal Litzmannstadt [= Lodz], und wenn es dort Schwierigkeiten geben sollte, nach dem Osten. Nun sagte ich, ich habe die Vorbereitungsmaßnahmen gesehen und war auf Grund dieser Vorbereitungsmaßnahmen entschlossen gewesen, diese Evakuierung als Ziel-Station Litzmannstadt durchzudrücken.«
    Die Verteidigung wollte diesen Vorfall als Beleg dafür angesehen wissen, daß Eichmann Juden gerettet habe, wann immer er es konnte – was natürlich nicht stimmte. Der Ankläger, der ihn später wegen des gleichen Vorfalls ins Kreuzverhör nahm, versuchte diesen so zu interpretieren, als habe Eichmann selbst über die endgültige Bestimmung aller Transporte befunden; daß also er darüber entschieden habe, ob ein bestimmter Transport in den Tod geschickt werden solle oder nicht – was ebensowenig stimmte. Eichmanns eigene Erklärung, er habe keineswegs einem Befehl zuwidergehandelt, sondern nur den Vorteil wahrgenommen, zwischen »zwei Möglichkeiten« wählen zu können, war aber auch nicht wahr – denn er wußte genau, daß in Lodz Schwierigkeiten bestanden, daß also sein Befehl auf gut deutsch lautete: Zielstation Minsk oder Riga. Obwohl Eichmann das alles völlig vergessen hatte, war dies doch ohne Zweifel der einzige Fall, in dem er wirklich versucht hatte, Juden das Leben zu retten. Als aber nur drei Wochen später in Prag eine von Heydrich einberufene Konferenz tagte, hatte Eichmann sich bereits eines Besseren besonnen und trug folgendes vor: »Die SS-Brigadeführer Nebe und Rasch konnten in die Lager für kommunistische Häftlinge im Operationsgebiet [d. h. für die russischen Kommissare, die von den Einsatzgruppen an Ort und Stelle liquidiert wurden] Juden mit hineinnehmen«, und in diesem Sinne sei er mit den Ortskommandanten »zu einem Übereinkommen gekommen«. Auf dieser Konferenz wurden die Schwierigkeiten in Lodz ausdrücklich erwähnt, und schließlich wurde beschlossen, 50 000 Juden aus dem Reich (d. h. mit Einschluß von Österreich, Böhmen und Mähren) nach Riga und Minsk zu deportieren, also direkt in die Operationsgebiete der Einsatzgruppen. Diese Gegenüberstellung gibt uns die Möglichkeit einer Antwort auf Richter Landaus Frage, die sich nahezu jedem Beobachter dieses Prozesses unmittelbar aufdrängte, auf die Frage nämlich, ob der Angeklagte ein Gewissen hatte. Die Antwort schien klar: Ja, Eichmann hatte ein Gewissen, sein Gewissen hat ungefähr vier Wochen lang so funktioniert, wie man es normalerweise erwarten durfte; danach kehrte es sich gleichsam um und funktionierte in genau der entgegengesetzten Weise.
    Und selbst während der Tage und Wochen, als sein Gewissen noch normal funktionierte, bewegte es sich in recht merkwürdigen Grenzen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Eichmann, bereits Wochen und Monate bevor er in den Führerbefehl eingeweiht wurde, über die Mordaktionen der Einsatzgruppen Bescheid wußte; er wußte, daß direkt hinter der Kampflinie alle russischen Funktionäre (»Kommissare«), die ganze polnische Intelligenz, die man Hitler zufolge »ruhig

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