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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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000 Insassen der verschiedensten Kategorien, unter denen sich Nichtjuden und einfache Zwangsarbeiter befanden, die nicht für das Vergasungsprogramm vorgesehen waren. Als Besucher konnte man die Tötungsanlagen leicht umgehen, und Höß, mit dem Eichmann sich recht gut verstand, ersparte ihm den grausigen Anblick. Eichmann ist niemals bei einer Massenerschießung unmittelbar dabeigewesen, er hat niemals von nahem den Vergasungsvorgang beobachtet, noch hat er je die Selektion der Arbeitsfähigen (durchschnittlich etwa 25 Prozent jedes Transports) auf der Rampe mit angesehen, die in Ausschwitz den Vergasungen vorausging. Er hat mit eigenen Augen gerade genug gesehen, um genau Bescheid zu wissen, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte: daß es zwei verschiedene Methoden des Tötens gab – Erschießen und Vergasen, daß die Erschießungen von den Einsatzgruppen und daß die Vergasungen in den Lagern, entweder in Gaskammern oder in Gaswagen, vorgenommen wurden und daß in den Lagern ausgeklügelte Vorkehrungen getroffen wurden, um die Opfer bis zum Schluß über ihr Schicksal zu täuschen.
    Die Tonbandaufnahmen aus dem Polizeiverhör, aus denen die voranstehenden Zitate stammen, wurden vor Gericht in der zehnten der einhunderteinundzwanzig Sitzungen des Prozesses abgespielt, am neunten Tag der nahezu neun Monate, die der Prozeß dauerte. Keine dieser Aussagen des Angeklagten, die da mit seltsam körperloser Stimme vom Tonband abliefen – doppelt körperlos, da der Körper selbst, zu dem diese Stimme gehörte, zwar gegenwärtig war, aber hinter den dicken Glaswänden, die ihn umgaben, seiner Körperlichkeit beraubt zu sein schien –, wurde von ihm selbst oder von seinem Verteidiger bestritten. Dr. Servatius hatte keine Einwände, er erwähnte lediglich, daß auch er später, wenn die Verteidigung zu Wort komme, dem Gericht einige Aussagen des Angeklagten aus dem Polizeiverhör vorlegen würde, ein Versprechen, das nicht eingelöst wurde. Dabei hatte man das Gefühl, daß er ebensogut gleich sein Schlußplädoyer vortragen könnte, denn die Tatbestandsaufnahme gegen den Angeklagten in diesem »historischen Prozeß« schien nun vollständig, alles, was nötig war, ihn zu verurteilen, schien zweifelsfrei erwiesen. Nun war ja das eigentlich Faktische des Falles, die Handlungen, die Eichmann wirklich begangen hatte – wenngleich nicht alle, die der Staatsanwalt ihm zur Last legen wollte –, nie bezweifelt worden; nicht nur waren sie lange vor Beginn des Prozesses aktenkundig gewesen, Eichmann hatte sie wieder und wieder bestätigt. (Gelegentlich, wenn man ihn im Polizeiverhör dazu bringen wollte, Dinge zuzugeben, die er entweder nicht getan hatte oder an die er sich nicht mehr erinnerte, sagte er dem Vernehmungsoffizier, er würde ja gerne alles »ohne weiteres zugeben, wäre es wirklich wahr«, es sei ihm doch klar, daß er »mit nichts anderem als dem Tode zu rechnen habe«, und er könne nicht verstehen, wozu das alles gut sein solle: »Es reicht sowieso bei mir schon aus.«) Doch weil er den Transport der Opfer bewerkstelligt hatte und nicht ihre Ermordung, war immer noch, zumindest formalrechtlich, eine Frage offengeblieben: die Frage, ob er gewußt hatte, was er tat, und darüber hinaus die Frage, ob er in der Lage gewesen war, die Ungeheuerlichkeit seiner Handlungen zu beurteilen – ob er also rechtlich verantwortlich war, abgesehen von der Tatsache, daß er klinisch voll zurechnungsfähig war. Beide Punkte waren nun positiv beantwortet: er hatte die Einrichtungen gesehen, zu denen die Transporte hingeleitet wurden, und der Schock darüber hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Blieb als letzte die beunruhigendste aller dieser Fragen, die von den Richtern und besonders von dem Vorsitzenden des Gerichts immer von neuem aufgeworfen wurde: »Gibt es irgend etwas in der Aussage des Angeklagten hier im Gericht oder in seiner Aussage vor der Polizei, aus dem hervorgeht, daß die Judenvernichtung seinem Gewissen widerstrebte?« Das war freilich eine moralische Frage und die Antwort darauf vielleicht ohne rechtliche Bedeutung.
    Nach Klärung des Tatbestandes blieben juristisch nur noch zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Konnte er von der strafrechtlichen Verantwortung freigesprochen werden im Sinne von Artikel 10 des Gesetzes, nach dem gegen ihn verhandelt wurde, weil er seine Handlungen begangen hatte, »um der ihm drohenden Gefahr sofortigen Todes zu entrinnen«? Und zweitens: Konnte er sich auf Umstände

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