Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
berufen, die das Gesetz im Artikel 11 als Milderungsgründe aufführt: hatte er alles getan, »um die aus dem Delikt entstandenen Folgen abzumildern«, oder »mit der Absicht« gehandelt, »schlimmere Folgen als die aus dem Delikt entstandenen abzuwenden«? (Die Artikel 10 und 11 des Gesetzes zur Bestrafung von Nazis und ihrer Helfershelfer von 1950 sind offenbar im Hinblick auf jüdische »Kollaborateure« entworfen worden. Überall waren beim eigentlichen Vernichtungsprozeß jüdische Sonderkommandos beschäftigt gewesen, sie hatten strafbare Handlungen begangen, um sich vor einer unmittelbaren Lebensgefahr zu retten, und die Judenräte und Judenältesten hatten kooperiert, weil sie dachten, sie könnten damit schlimmere Folgen verhüten.) In Eichmanns Fall war nach seiner eigenen Aussage die Antwort auf jede der beiden Fragen eindeutig negativ. Er hat zwar einmal gesagt, daß seine einzige Alternative Selbstmord gewesen wäre, aber das war eine Lüge; man weiß, wie überraschend einfach es für Mitglieder der Vernichtungskommandos gewesen ist, von solchen Posten wegzukommen, ohne daß daraus ernsthafte Folgen für sie entstanden wären. (Im Nürnberger Aktenmaterial »war nicht ein einziger Fall nachzuweisen, bei dem ein SS-Angehöriger wegen Verweigerung eines Erschießungsbefehls selbst erschossen worden wäre« [Herbert Jäger, »Betrachtungen zum Eichmann-Prozeß«, in: »Kriminologie und Strafrechtsform«, Heft ¾, 1962].) Und im Prozeß selbst lag die Aussage von einem der Zeugen für die Verteidigung vor, von dem Bach-Zelewski erklärte: »Die Möglichkeit, sich einem Auftrag durch ein Gesuch um Versetzung zu entziehen, war gegeben. Es mußte zwar im Einzelfall mit einer gewissen Maßregelung gerechnet werden. Eine Lebensgefahr war aber damit keineswegs verbunden.« Eichmann hat auch nicht besonders auf dieser einen Bemerkung bestanden, er hat sie kaum wörtlich gemeint. Er wußte sehr wohl, daß er ganz und gar nicht in der klassischen »schwierigen Lage« jenes Soldaten war, der – wie Dicey es in seinem berühmten Verfassungsrecht einmal ausdrückt – unter Umständen »von einem Kriegsgericht zum Tode durch Erschießen verurteilt werden kann, weil er einen Befehl verweigert, und vom Geschworenengericht zum Galgen, weil er dem Befehl gehorcht«, und in jedem Fall wäre Eichmann als Mitglied der SS niemals vor ein Kriegsgericht, sondern vor ein Polizei- und SS-Gericht gekommen. In seiner Schlußbemerkung vor Gericht gab Eichmann zu, unter dem einen oder anderen Vorwand hätte er aus der Sache herauskommen können, andere hätten das getan: »Heimlich davonstehlen konnte sich ja der einzelne. Ich habe aber nicht zu denen gehört, die es für zulässig hielten.« Er gab das Beispiel des ehemaligen Judenreferenten im Innenministerium, Ministerialdirektor Lösener, der es vorgezogen hatte, in »die stille Opposition« zu gehen und dort »seinem Führer als gutbezahlter Richter im Reichsverwaltungsgericht« zu dienen. »So sieht die Zivilcourage eines Prominenten aus.« Die Nachkriegsauffassung von möglicher offener Befehlsverweigerung sei ein Märchen: »Unter den damaligen Verhältnissen war ein solches Verhalten nicht möglich. Es hat sich ja auch niemand so verhalten«: für ihn sei dergleichen »undenkbar« gewesen. Hätte man ihn zum Kommandanten eines Todeslagers gemacht wie seinen Freund Höß, »so hätte er sich eine Kugel in den Kopf geschossen, um so den Konflikt zwischen Gewissen und Pflicht zu lösen«. (Er vergaß, daß er vor Gericht und im Polizeiverhör lediglich angegeben hatte, daß ein solcher Befehl für ihn einen Konflikt zwischen Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zum direkten Töten und Pflicht bedeutet hätte und daß Höß selbst ja auch nicht mit eigenen Händen zu töten hatte. Der hatte zwar einmal einen Mord begangen, aber das lag lange zurück. Er hatte einen gewissen Walter Kadow umgebracht, den Mann, der angeblich Leo Schlageter an die französischen Besatzungsbehörden verraten hatte, und war dafür von einem deutschen Gericht für fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt worden. In Auschwitz brauchte Höß natürlich nicht mit eigenen Händen zu töten.) Doch hätte man ihm, Eichmann, wahrscheinlich nie einen solchen Posten zugewiesen, denn wer im Dritten Reich »zu befehlen und zu gehorchen hat, weiß, was man einem Menschen zumuten darf«. Nein, er war nicht in einer unmittelbar drohenden Lebensgefahr gewesen. Auch hatte er, der so stolz darauf war, stets »seine Pflicht getan«
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