Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
ausmerzen« konnte, und alle einheimischen Juden in Massenerschießungen hingemordet wurden. Außerdem hatte er im Juli des gleichen Jahres, ein paar Wochen ehe er zu Heydrich bestellt wurde, ein Memorandum von einem im Warthegau stationierten SS-Mann erhalten, der ihm mitteilte:
»Es besteht in diesem Winter die Gefahr, daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitsfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.«
In dem Begleitbrief an den »lieben Kameraden Eichmann« räumte der Absender ein, »diese Dinge klingen teilweise phantastisch, wären aber meiner Ansicht nach durchaus durchzuführen «. Die Einschränkung zeigt, daß der so wesentlich »phantastischere« Befehl des Führers dem Schreiber noch nicht bekannt war, doch zeigt der Brief auch, bis zu welchem Grade dieser Befehl bereits in der Luft lag. Eichmann hat dieses Schreiben nie erwähnt, wahrscheinlich war er seinerzeit nicht im geringsten davon beeindruckt worden. Denn dieser Vorschlag betraf ja nur »Ostjuden«, nicht die Juden aus dem Reich oder aus anderen westeuropäischen Ländern. Mord als solcher hat Eichmanns Gewissen offenbar niemals belastet, es regte sich immerhin bei dem Gedanken, daß deutsche Juden, die er ja kannte, ermordet werden sollten. Er versuchte, dies vor Gericht zu erläutern:
»Ich habe ja nie geleugnet, daß ich gewußt hätte, daß die Einsatzgruppen den Tötungsbefehl bekommen haben, aber ich habe nicht gewußt, daß die Juden aus dem Reich nach dem Osten denselben Maßnahmen unterworfen sind.«
Selbst nach Erhalt des Führerbefehls hätten sie sich noch Täuschungen hingegeben, »weil uns die Sache so ungewohnt gewesen ist«, und daher »angenommen, daß die Juden aus dem Reich nicht so behandelt würden«. Er hatte ein Recht auf das »wir«, denn genauso sah es z. B. in dem Gewissen des »alten Kämpfers« Wilhelm Kube aus, des Generalkommissars im besetzten Rußland, der sich empörte, als deutsche Juden mit dem Eisernen Kreuz zur »Sonderbehandlung« in Minsk ankamen. Da Kube sich präziser auszudrücken vermochte als Eichmann, können wir aus seinen Worten entnehmen, was etwa in Eichmanns Kopf vorgegangen sein mag in jenen Tagen, als ihn sein Gewissen noch plagte, nämlich in Kubes Worten: »Ich bin gewiß hart und bereit, die Judenfrage lösen zu helfen, aber Menschen, die aus unserem Kulturkreis kommen, sind doch etwas anderes als die bodenständigen vertierten Horden.« Diese Art von Gewissen, das – wenn überhaupt – gegen Mord nur rebelliert, wenn er an Menschen »aus unserem Kulturkreis« verübt wird, ist nicht mit dem Hitlerregime ausgestorben; noch heute hält sich bei den Deutschen eine hartnäckige »Fehlinformation«, derzufolge »nur« Ostjuden und Kommunisten liquidiert worden seien, also die »bodenständigen, vertierten Horden«. Und diese Art von Gewissen ist keineswegs ein Monopol bestimmter Schichten des deutschen Volkes. Harry Mulisch berichtet, wie sich ihm anläßlich der Zeugenaussage von Professor Salo W Baron über die geistigen und kulturellen Leistungen des Judentums die Fragen aufgedrängt haben: »Würde, falls die Juden ein kulturloser Stamm, etwa so wie die ebenfalls ausgerotteten Zigeuner, gewesen wären, ihr Tod weniger schlimm gewesen sein? Steht Eichmann als Menschenvernichter oder als Kulturzerstörer vor Gericht? Ist ein Menschenmörder schuldiger, wenn dabei auch eine Kultur verlorengeht?« Und als er dem Generalstaatsanwalt Hausner diese Frage stellt, kommt heraus: »Er findet ja – ich nein.« Es ist keine harmlose Frage, die mit der Vergangenheit begraben sein könnte; davon kann man sich unschwer durch den amerikanischen Film »Dr. Strangelove« überzeugen, wo sie auf andere Weise wiederkehrt: der seltsame Liebhaber der Bombe, der allerdings als eine Art Nazi gekennzeichnet ist, schlägt vor, in bombensicheren Unterständen ein paar Hunderttausend zum Überleben auszusuchen – und zwar unter Berücksichtigung ihres Intelligenzquotienten!
Diese Frage des Gewissens, der in Jerusalem so schwer beizukommen war, hat das Naziregime durchaus nicht übersehen. Ja, wenn man sich die Geschichte des deutschen Widerstands ansieht, die angesichts der so einfachen und eindeutigen Gewissensfrage so merkwürdig kompliziert anmutet, könnte man auf den Gedanken kommen, daß die
Weitere Kostenlose Bücher