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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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lebten, sie seien als »Pioniere« für das Dritte Reich nach dem Osten geschickt worden. Die SS-Einsatzgruppen mit »Sonderauftrag«, deren es nur vier von jeweils Bataillonsstärke mit insgesamt etwa 3000 Mann gab, bedurften und erfreuten sich einer engen Zusammenarbeit mit der Wehrmacht, für gewöhnlich waren die Beziehungen »ausgezeichnet« und manchmal »herzlich«. Die Generäle zeigten eine »überraschend gute Haltung gegenüber den Juden«, nicht nur lieferten sie »ihre« Juden an die Einsatzgruppen aus, oft liehen sie ihnen sogar ihre eigenen Leute, gewöhnliche Wehrmachtsoldaten, damit sie als Assistenten bei den Massakern fungierten. Die Gesamtzahl der von den Einsatzgruppen umgebrachten jüdischen Opfer muß man nach Hilbergs Angaben auf anderthalb Millionen schätzen. Doch das war nicht das Resultat des Führerbefehls zur physischen Vernichtung des ganzen jüdischen Volkes. Es war das Resultat eines Befehls, in dem Hitler schon früher, im März 1941, Himmler angewiesen hatte, die SS und die Polizei sollten »zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben [in Rußland] ausführen«.
    Der Führerbefehl zur Ausrottung aller, nicht nur russischer und polnischer, Juden läßt sich, obwohl er später erging, viel weiter zurückverfolgen. Sein Ursprung lag nicht im RSHA noch in sonst einem der Büros von Heydrich oder Himmler, sondern in Hitlers persönlichem Amt, der Kanzlei des Führers. Der Befehl hatte nichts mit dem Krieg zu tun und wurde auch nie mit militärischen Notwendigkeiten entschuldigt. Eines der großen Verdienste von Reitlingers »Endlösung« (1953) ist der absolut schlüssige dokumentarische Nachweis, daß das in den östlichen Gaskammern praktizierte Ausrottungssystem auf Hitlers Euthanasieprogramm zurückgeht; leider hat der Eichmann-Prozeß trotz seines Strebens nach »historischer Wahrheit« diesem Tatsachenkomplex keine Aufmerksamkeit gewidmet. Damit hätte man nämlich Klarheit über die vieldiskutierte Frage gewinnen können, ob Eichmann als Angehöriger des RSHA mit »Gasgeschichten« zu tun hatte oder nicht. Obwohl sich einer seiner Leute, Rolf Günther, aus eigenem Antrieb und vielleicht auf Grund eines Sonderauftrags dafür interessierte, ist dies nämlich unwahrscheinlich. Globocnik zum Beispiel, der die Gasanlagen in der Lubliner Region eingerichtet hat (wo ihn Eichmann, wie wir sahen, besuchte), wandte sich nicht an Himmler oder irgendeine andere Polizei- oder SS-Behörde, wenn er zusätzliches Personal brauchte; er schrieb an Victor Brack in der Kanzlei des Führers, der dann das Ersuchen an Himmler weitergab.
    Die ersten Gaskammern wurden 1939 konstruiert, in Erfüllung eines auf den Tag des Kriegsausbruchs datierten Erlasses von Hitler, demzufolge »unheilbaren Kranken … der Gnadentod gewährt werden kann«. (Dieser »medizinische« Ursprung der Vergasungen hat wahrscheinlich dann in Dr. Servatius die verblüffende Überzeugung hervorgerufen, daß das Töten durch Gas als »medizinische Angelegenheit« zu betrachten sei.) Die Idee selbst war noch wesentlich älter. Hitler hatte seinem Reichsärzteführer Wagner gegenüber bereits 1935 geäußert, »daß, wenn ein Krieg sein soll, er diese Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen werde«, weil er »der Meinung war, daß ein solches Problem im Kriege zunächst glatter und leichter durchzuführen ist …«. Auf den erwähnten Erlaß hin wurden sofort »Gnadentod«-Aktionen gegen Geisteskranke eingeleitet: vom Dezember 1939 bis zum August 1941 wurden ungefähr 50 000 (oder auch 100 000) Deutsche mit Kohlenmonoxydgas getötet; die Todeskammern in den Heil- und Pflegeanstalten waren auf die gleiche Weise wie später die Gaskammern in Auschwitz als Dusch- und Baderäume getarnt. Aber das Euthanasieprogramm war ein Fehlschlag. Es war unmöglich, die Vergasungen vor der deutschen Bevölkerung in der Umgebung der Anstalten geheimzuhalten; es gab Proteste von allen Seiten, die Bevölkerung hatte sich augenscheinlich noch nicht zu einer »objektiven« Einsicht in das Wesen der Medizin und die Aufgabe des Arztes durchgerungen. Die Vergasungen im Osten – oder, in der Sprache der Nazis, die »humane Methode« des Tötens durch »Gewährung des Gnadentods« – begannen fast am selben Tage, an dem in Deutschland die Vergasungen eingestellt wurden, und zwar wurden nun die Fachleute, die bislang in Deutschland an dem Euthanasieprogramm mitgewirkt hatten, nach dem Osten geschickt, um die neuen Einrichtungen zur

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