Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
ungerechten und von niemandem provozierten Krieg Hitler vom Zaun gebrochen hatte. Und was stellten sie sich unter einem »gerechten Frieden« vor? Goerdeler, das geistige Haupt dieses Widerstands, hat es immer wieder in zahlreichen Denkschriften dargelegt: »Der Bestand des Reichs in den Grenzen von 1914 [also einschließlich Elsaß-Lothringen], vermehrt um Österreich und Sudetenland«, eine »führende Stellung Deutschlands auf dem Kontinent« und vielleicht die Wiedergewinnung Südtirols! Und wie gedachten die Verschwörer im Falle des Erfolgs vor das Volk zu treten? Wir haben zumindest den Entwurf für einen Aufruf an die Wehrmacht von Beck, der als Staatsoberhaupt fungieren sollte – darin ist viel von dem »Eigensinn«, der »Unfähigkeit und Maßlosigkeit«, der »Vermessenheit und Eitelkeit« der Führung die Rede, aber »der gewissenloseste Schlag« ist doch, daß man jetzt »die Führer der Wehrmacht für das ganze Unglück verantwortlich« machen will und daß Verbrechen begangen wurden, »die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln«. Was ist nun zu tun? Man muß kämpfen, »bis ein ehrenvoller Ausgang des Krieges gesichert ist«.
Der Mut dieser Leute ist bewundernswert, sie haben mit dem Leben bezahlt; aber alles, was wir direkt von ihnen wissen, unabhängig von den im Nachhinein verfaßten Memoiren und Biographien, spricht dafür, wie recht der heute in Deutschland vergessene Romancier Friedrich Reck-Malleczewen hatte, als er – kurz bevor er in einem Konzentrationslager ermordet wurde – in sein Tagebuch (»Tagebuch eines Verzweifelten«, 1947) in unmittelbarer Reaktion auf die Nachricht von dem Attentat, dessen Scheitern er natürlich bedauerte, schrieb:
»Ein wenig spät, Ihr Herren, die Ihr diesen Erzzerstörer Deutschlands gemacht habt, die Ihr ihm nachliefet, solange alles gut zu gehen schien, die Ihr … unbedenklich jeden von Euch gerade verlangten Treueid schworet, die Ihr Euch zu armseligen Mamelucken des mit hunderttausend Morden, mit dem Jammer und dem Fluch der Welt belasteten Verbrechers erniedrigt habt und ihn jetzt verratet, wie Ihr vorgestern die Monarchie und gestern die Republik verraten habt … diese unwürdigen Enkel des großen Moltke … sie verraten jetzt, wo der Bankerott nicht mehr verheimlicht werden kann, die pleite gehende Firma, um sich ein politisches Alibi zu schaffen – sie, die als platteste Machiavellisten noch alles verraten haben, was ihren Machtanspruch belastete.«
Nichts spricht dafür, daß Eichmann je in persönliche Berührung mit den Männern vom 20. Juli gekommen ist, und wir wissen, daß er sie noch in Argentinien alle samt und sonders für Verräter und Lumpen gehalten hat. Hätte er aber je Gelegenheit gehabt, Goerdelers »originelle« Gedanken zur Judenfrage kennenzulernen, so hätten sich vielleicht gewisse Übereinstimmungen ergeben. Zwar wollte Goerdeler natürlich »die deutschen Juden für ihre Verluste und Mißhandlungen entschädigen« – im Jahre 1942, also zu Zeiten der »Endlösung«, als sie nicht mißhandelt und beraubt, sondern vergast wurden, und zwar nicht nur die deutschen Juden –, aber er schlug außerdem eine »Dauerlösung« vor, die »sie aus der unwürdigen Stellung eines mehr oder weniger unerwünschten ›Gastvolkes‹ in den Ländern Europas erlösen sollte«. (In Eichmanns Jargon hieß das: »Grund und Boden unter ihre Füße.«) Dafür wollte er »einen selbständigen Staat in freiem Siedlungsland« beschaffen – in Kanada oder in Südamerika –, also eine Art Madagaskar, von dem er wohl gehört hatte, während er ganz im Sinne der Anfangsstadien des Regimes und der damals gängigen »Kategorien« dafür eintreten wollte, daß solchen Juden, die »soldatische Leistungen für Deutschland oder alte Familientraditionen aufweisen« können (von den Nazis »Verdienstjuden« genannt), »auch die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verweigert« würde. Man sieht, was immer es mit Goerdelers »Dauerlösung« auf sich hatte, »originell« gerade war sie nicht. Und auch hier hätte er Bundesgenossen bis weit in die Kreise der SS und der Partei finden können.
Wie also stand es um das Gewissen in Deutschland zu jener Zeit, als Eichmann frei von allen Gewissensbissen seine Verbrechen beging? Es hat einzelne gegeben, die von vornherein und ohne je zu schwanken in einer nun wirklich ganz und gar lautlosen Opposition standen. Niemand kann wissen, wie viele es waren –
Weitere Kostenlose Bücher