Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Rechtfertigungsversuchen abgab, und wenn er es tat, war es offenbar sehr schnell vergessen. In den Köpfen dieser Männer, die zu Mördern geworden waren, blieb lediglich die eine Vorstellung hängen, daß sie in etwas Historisches, Großartiges, Einzigartiges einbezogen waren, daß sie einer »in zweitausend Jahren nur einmal vorkommenden Aufgabe dienten«, an der man entsprechend schwer zu tragen hatte. Und darauf kam es an; denn diese Mörder waren keine gemeinen Verbrecher, sie waren auch nicht geborene Sadisten oder sonst pervertiert. Im Gegenteil, man entfernte ganz systematisch möglichst alle, die sich als nicht normal herausstellten – Sexualverbrecher, Totschläger usw. –, denn die SS lehnte bekanntlich »unzivilisierte Methoden« ab. Die Mannschaften für die Einsatzgruppen wurden aus der Waffen-SS ausgesucht, einer militärischen Einheit, die sich wohl kaum mehr Verbrechen hat zuschulden kommen lassen als eine beliebige Wehrmachtseinheit, und ihre Kommandeure hatte Heydrich aus der SS-Intelligenz mit besonderer Berücksichtigung promovierter Akademiker ernannt. Man hatte es also mit normalen Menschen zu tun, und das Problem war nicht so sehr, wie man mit ihrem »normalen Gewissen« fertigwerden könne als wie man sie von den Reaktionen eines gleichsam animalischen Mitleids »befreien« konnte, das normale Menschen beim Anblick physischer Leiden nahezu unweigerlich befällt. Der von Himmler, der anscheinend besonders anfällig für solche instinktiven Reaktionen war, angewandte Trick war sehr einfach und durchaus wirksam; er bestand darin, dies Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich selbst zu richten. So daß die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, sich nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muß ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten, wie schwer lastet diese Aufgabe auf meinen Schultern!
Daß Eichmanns Gedächtnis in bezug auf Himmlers ingeniöse Parolen so lückenhaft war, mag auch damit zu erklären sein, daß es andere, noch wirkungsvollere Mittel zur Lösung des Gewissensproblems gab. An erster Stelle stand, wie Hitler ganz richtig vorausgesehen hatte, die einfache Tatsache, daß Krieg war. Immer wieder ist Eichmann darauf zurückgekommen:
»Man sah Tote überall – und man hat eine – sagen wir – persönliche Einstellung zu den Dingen gehabt, wie man sie eben heute nicht mehr hat.«
Es sei eben damals eine Zeit gewesen, in der man dem Tod überhaupt mit Gleichgültigkeit gegenüberstand, auch dem eigenen, denn
»genauso ist es uns völlig egal gewesen, ob wir heute sterben oder erst morgen sterben, und es hat Zeiten gegeben, wo wir den Morgen verflucht haben – jedenfalls ich, und ich weiß es auch von andern –, daß wir überhaupt noch leben«.
In dieser Atmosphäre von Tod und Gewalt verfehlte die Tatsache nicht ihre Wirkung, daß die »Endlösung« in ihren späteren Stadien nicht durch Erschießen, also gewaltsam, bewerkstelligt wurde, sondern in den Vergasungsanlagen, welche von Anfang bis Ende eng verknüpft waren mit dem von Hitler in den ersten Kriegswochen lancierten »Euthanasie«-Programm, das bis zum Beginn des Rußlandkrieges an Geisteskranken in Deutschland praktiziert wurde. So wie das Ausrottungsprogramm im Spätsommer 1941 in die Wege geleitet wurde, lief es sozusagen auf zwei völlig verschiedenen Gleisen. Das eine führte in die Gaskammern, das andere zu den Einsatzkommandos, deren Aktionen hinter den Frontlinien, besonders in Rußland, mit dem Vorwand der Partisanenbekämpfung gerechtfertigt wurden und deren Opfer durchaus nicht nur Juden waren. Außer gegen echte Partisanen gingen die Einsatzgruppen gegen russische Funktionäre vor, gegen Zigeuner und Asoziale, gegen Geisteskranke, gegen Juden. Juden waren als »potentielle Gegner« mit einbezogen, und unglücklicherweise dauerte es Wochen und Monate, bis die russischen Juden das begriffen, und da war es zum »Verschwinden« zu spät. (Die ältere Generation erinnerte sich an den Ersten Weltkrieg, in dem die deutsche Armee als Befreier begrüßt worden war; weder Junge noch Alte hatten irgend etwas darüber erfahren, wie die Juden in Deutschland oder auch nur in Warschau behandelt wurden; »sie waren auffallend schlecht unterrichtet«, berichtete der deutsche Geheimdienst aus Weißrußland [Hilberg, S. 207 Anm. 107].) Gelegentlich kamen sogar deutsche Juden in diesem Gebiet an, die in der noch bemerkenswerteren Illusion
Weitere Kostenlose Bücher