Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
vielleicht hunderttausend, vielleicht viel mehr, vielleicht viel weniger. Es gab sie überall, in allen Schichten des Volkes und in allen Parteien, vielleicht sogar in den Reihen der NSDAP. Zu ihnen gehörten sehr wenige, die einen Namen hatten – wie der erwähnte Reck-Malleczewen oder Karl Jaspers; einige der wirklich Frommen wie jener Handwerker, der sich lieber die selbständige Existenz vernichten ließ und einfacher Arbeiter wurde, als die kleine Formalität des Parteieintritts auf sich zu nehmen; die wenigen, die den Eid noch wirklich ernst nahmen und lieber auf die Universitätskarriere verzichteten, als sich auf die Person Hitlers vereidigen zu lassen; eine ganze Reihe von Arbeitern, vor allem in Berlin, und von Intellektuellen aus der sozialistischen Bewegung, die versuchten, den ihnen bekannten Juden zu helfen; zu ihnen gehörten schließlich jene beiden Bauernsöhne, die am Ende des Krieges zur SS eingezogen wurden, die Unterschrift verweigerten und zum Tode verurteilt wurden: »Wir beide wollen lieber sterben, als unser Gewissen mit so Greueltaten beflecken. Ich weiß, was die SS ausführen muß.« (Mitgeteilt in Günther Weisenborn, »Der lautlose Aufstand«.) Eine Krise des Gewissens gerade hat es bei ihnen nie gegeben, aber in den Reihen des Widerstands oder gar der Verschwörer waren sie schwerlich zahlreicher vertreten als anderswo auch. Sie waren weder Helden noch Heilige, »nur« tadellose Menschen. Nur einmal, in einer einzigen verzweifelten Geste hat sich dies ganz und gar Vereinzelte und Lautlose in der Öffentlichkeit kundgetan: das war, als die Geschwister Scholl unter dem Einfluß ihres Lehrers Kurt Huber jene Flugblätter verteilten, in denen Hitler nun wirklich das genannt wurde, was er war – ein »Massenmörder«.
Sieht man sich aber die Dokumente und vorbereiteten Proklamationen derer an, die in den Kreis der Verschwörer vom 20. Juli gehörten und im Falle des Erfolgs das »andere Deutschland« in der Welt und der deutschen Öffentlichkeit vertreten hätten, so kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, daß das, was man gemeinhin unter Gewissen versteht, in Deutschland so gut wie verlorengegangen war, ja daß man sich kaum noch bewußt war, wie sehr man selbst bereits im Bann der von den Nazis gepredigten neuen Wertskala stand und wie groß der Abgrund war, der auch dieses »andere Deutschland« von der übrigen Welt trennte. Dies erklärt die sonst ja ganz unbegreiflichen Illusionen vor allem Goerdelers, es erklärt aber auch, daß ausgerechnet Himmler, aber auch Ribbentrop in den letzten Jahren des Krieges davon träumen konnten, wieder ganz obenan mit den Alliierten über den Frieden für ein besiegtes Deutschland zu verhandeln. Nun, Ribbentrop war wohl ein Dummkopf, aber Himmler war nur beschränkt, nicht eigentlich dumm.
Das letztere zeigte sich vor allem auch darin, daß gerade Himmler für die Lösung von Gewissensfragen großes Talent besaß. Er prägte Schlagworte wie die berühmte SS-Parole: »Treue ist das Mark der Ehre«, oder entnahm sie alten HitlerReden (aus dem Jahre 1931) wie »Meine Ehre heißt Treue« – Phrasen, die Eichmann als »geflügelte Worte« und die Richter als »leeres Gerede« bezeichneten – und gab sie dann, wie sich Eichmann erinnerte, »meist um die Jahreswende« aus (vermutlich zugleich mit einer Weihnachtsgratifikation). In Eichmanns Gedächtnis war nur eine dieser Parolen hängengeblieben, die er oft wiederholte: »Dies sind Schlachten, die künftige Generationen nicht mehr schlagen müssen« – gemeint waren die »Schlachten« gegen wehrlose Menschen, Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen und andere »nutzlose Esser«. Andere Phrasen dieser Art aus Himmlers Reden vor Kommandeuren der Einsatzgruppe und vor Höheren SS- und Polizeiführern lauteten etwa: »Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.« Oder: »Für die Organisation, die den Auftrag durchführen mußte, war [der Befehl zur »Lösung der Judenfrage«] der schwerste, den wir bisher hatten.« Oder: »Wir wissen wohl, wir muten euch ›Übermenschliches‹ zu, wir verlangen, daß ihr ›übermenschlich unmenschlich seid.«
Bleibt nur zu sagen, daß solche Erwartungen im allgemeinen nicht enttäuscht wurden. Doch ist bemerkenswert, daß Himmler sich kaum jemals mit ideologischen
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