Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
fragen.«
»Die Sache
ist die: Vor ziemlich genau einem Jahr hat Vroni einen Hauptmann der DDR-Volkspolizei
kennengelernt. Wie du weißt, waren die Grenzen noch offen, und es gab Zehntausende,
die im Westen gearbeitet haben und abends zurück in die Ostzone gefahren sind. Umgekehrt
war dies eher selten der Fall, wenn jemand rübergefahren ist, dann nur, um günstig
einzukaufen oder um Verwandte oder Freunde zu besuchen. 4,50 Ost-Mark für eine West-Mark,
man stelle sich das einmal vor. Da lohnt es sich, am Alex eine Tasse Café zu trinken.«
»Wie deine
Tochter«, ergänzte Sydows Mutter und ließ sich wieder auf ihren Korbsessel sinken.
»Genau,
wie Vroni. Es kam, wie es kommen musste. Vroni und ihre Freundin sitzen im Café,
als ein Mann namens Viktor Kunersdorf die Szene betritt. Hochgewachsen, redegewandt,
schneidig, dunkelhaarig. Ein Mann, auf den die Frauen fliegen. Er setzt sich zu
den beiden an den Tisch, kommt sofort mit ihnen ins Gespräch. Ich denke, den Rest
können wir uns sparen.«
»Das Ende
vom Lied: Die beiden heiraten.«
»Und das
innerhalb kürzester Zeit.« Lea schüttelte den Kopf. »Du fragst dich, wie man sich
auf so etwas einlassen kann? Ehrlich gesagt, Abigail – ich kann mir das selbst nicht
erklären. Veronika war Realistin, sie wusste, wie es drüben zugegangen ist. Beziehungsweise
zugeht. Lange Rede, kurzer Sinn: Sie war immer pünktlich, nur nicht am Dreizehnten,
wenn du verstehst, was ich meine.«
»Das heißt,
er hat sie überredet, bei ihm in der Ostzone zu bleiben.«
»Ob Viktor
sie überredet, gezwungen, getäuscht oder anderweitig unter Druck gesetzt hat, wissen
wir nicht. Tatsache ist, dass wir sie am Tag vor dem Mauerbau zum letzten Mal gesehen
haben. An Weihnachten haben wir dann eine Karte bekommen, der zu entnehmen war,
dass die beiden geheiratet haben. Kurz und bündig, ohne viele Worte zu machen. ›Wir
haben geheiratet, 21. Dezember 1961, Veronika und Viktor Kunersdorf‹. Schluss, aus,
Ende der Durchsage.«
»Kopf hoch,
Lea – sie wird schon wissen, was sie tut.«
»Nicht so
voreilig, Abigail, das war noch nicht alles.«
»Noch nicht
alles? Was soll das …«
»Das bedeutet,
es ist nicht gut gegangen.« Kurz davor, in Tränen auszubrechen, holte Lea tief Luft,
nahm die Teekanne zur Hand und schenkte ihrer Schwiegermutter nach. »Vor ein paar
Wochen, genauer gesagt am 12. April, haben wir dann eine weitere Nachricht erhalten.
Auf Umwegen, wie ich der Klarheit halber betonen muss.«
»Sag bloß,
sie haben sich getrennt!«
»Richtig.
Veronika ist dahintergekommen, dass Viktor sie betrogen hatte, hat ihre Koffer gepackt
und ist zu einer Bekannten und ihrem Mann gezogen. Das Prekäre daran: Durch die
Hochzeit mit Viktor ist sie automatisch DDR-Bürgerin geworden.«
»Und sitzt
jetzt drüben fest.«
Lea nickte.
»Ohne Geld, ohne Wohnung, ohne Arbeit. Und ohne die geringste Chance, in den Westen
zu gelangen. Einmal drüben, immer drüben.«
»Wie wär’s,
wenn sie einen Ausreiseantrag stellt?«
»So etwas
gibt’s bei den Genossen nicht. Ausreise, wo kämen wir da hin!«
»Und was
jetzt?«
»Dem Vernehmen
nach hat sich Vroni an den Ostberliner Magistrat und im Anschluss daran sogar an
den Ministerrat gewandt. Mal sehen, was dabei herauskommen …«
Heilfroh,
unterbrochen zu werden, stand Lea auf und eilte an die Tür, von wo aus ihr das Läuten
der Klingel entgegen scholl. »Ja bitte? Was gibt’s?«
Abigail
Wentworth spitzte die Ohren, bekam außer gedämpftem Gemurmel jedoch nichts mit.
Und so blieb sie einfach sitzen und trank in aller Ruhe ihren Tee.
Mehrere
Minuten später, nachdem die Haustür lautstark ins Schloss gefallen war, wurde es
ihr schließlich zu bunt. Neugierde war zwar ein Fremdwort für sie, aber das hinderte
sie nicht daran, nach dem Rechten zu sehen.
Das war
auch gut so. Denn kaum hatte sie das Wohnzimmer betreten, traf ihr Blick auch schon
auf ihre Schwiegertochter, welche mit dem Rücken zu ihr im Korridor stand.
»Der Bruder
ihrer Bekannten«, flüsterte Lea, den Kopf gesenkt und ohne sich nach Abigail umzudrehen,
»lebt in Westberlin. Der Zufall wollte es, dass er seinem Schwager begegnet ist,
der als Fahrer bei der S-Bahn [46] arbeitet und ihm aufgetragen hat, uns zu informieren.« Obwohl sie sich mit Macht
dagegen sträubte, brach Sydows Frau in Tränen aus und schluchzte: »Vor drei Tagen
haben sie Veronika abgeholt.«
»Aber …
aber das geht doch nicht. Sie hat doch nichts verbrochen.«
Die Antwort
war ein bitteres
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