Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
ich gewusst, was mich erwartet, wäre es bei einem Kind geblieben. Nicht
etwa, dass Agnes mir ständig Ärger bereitet hätte. Das nicht. Oder dass sie mich
absichtlich ignoriert hätte. Nein, es war einfach so, dass sie auf Distanz zu mir
gegangen ist, mich gemieden hat, so oft sie konnte. Kurz gesagt: Ich bin nie schlau
aus ihr geworden. Und was für mich galt, traf auch auf den Rest der Familie zu.
Kein Mensch, nicht einmal ihr Vater, ist imstande gewesen, sie zu durchschauen.«
»Die beiden
sind grundverschieden, stimmt’s?«
»Agnes und
Tom?« Ein Lächeln flog über Abigail Wentworths Gesicht. Sekundenbruchteile später
war davon nichts mehr zu sehen, die Wehmut, welche in ihrer Stimme mitschwang, unter
dem aufgesetzt wirkenden britischen Akzent begraben. »Das kannst du aber laut sagen.
Hier das Mysterium, das niemand zu enträtseln vermochte, dort der Heißsporn, der
sein Herz auf der Zunge trug. Größer hätten die Unterschiede zwischen den beiden
nicht ausfallen können.«
»Das ist
ja gerade das Problem.«
»Dass Thomas
sagt, was er denkt, meinst du? Auf die Gefahr, des Öfteren anzuecken?«
Lea nickte.
Ihre Schwiegermutter
quittierte es mit einem Lächeln. »Soll ich dir etwas verraten?«, fragte sie und
leerte ihre Tasse, bevor sie sich abwandte, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.
Ein Schauer folgte auf den nächsten, und das Ostufer blieb hinter den Regenschleiern
verborgen. »Im Grunde seines Wesens ist Thomas stets ein Preuße geblieben, auch
wenn er so tut, als ob Rebellenblut in seinen Adern fließt. Er hört es zwar überhaupt
nicht gern, aber wenn ich ihn mir anschaue, muss ich sagen, dass er seinem Vater
immer ähnlicher wird.«
»Darf ich
dich um etwas bitten, Abigail?«
»Selbstverständlich,
mein Kind.«
»Wenn ich
du wäre, würde ich ihn nicht darauf ansprechen. Sonst geratet ihr aneinander.«
»Ich weiß.«
Sydows Mutter deutete ein Nicken an, erhob sich und betrachtete die Lilien, Orchideen
und den Oleander, welche in Leas Wintergarten gediehen. »Tja, so ist das nun mal.
Von sich aus wäre mein Herr Sohn bestimmt nicht auf die Idee gekommen, mir Bescheid
zu sagen. Danke, dass du mich verständigt hast, Lea.«
»Keine Ursache,
das war doch selbstverständlich.«
»Tut mir
leid, dies sagen zu müssen, aber was die Abneigung gegenüber der Mutter betrifft,
steht Tom seiner Schwester in nichts nach.«
»Das redest
du dir ein, Abigail.«
»Du kannst
Mutter zu mir sagen, Lea.«
Sydows Frau
verschlug es die Sprache. Vor ihr, genauer gesagt mit dem Rücken zu ihr, stand eine
Frau, die sie vor wenigen Stunden kennengelernt und bis dato nur vom Hörensagen
gekannt hatte. Kühl, distanziert und so unnahbar, hatte diese Frau dennoch kein
Blatt vor den Mund genommen und ihr Dinge anvertraut, die, hätte Lea ihre Stelle
eingenommen, nie und nimmer zur Sprache gekommen wären. Mit so etwas hatte sie nicht
gerechnet, und während sie nach Worten rang, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Abigail
Wentworth, Tochter des sechsten Earls of Strafford, ein Mensch, zu dem man instinktiv
Abstand hielt, wünschte sich nichts sehnlicher als Liebe.
Lea erschauderte
und sie hatte Mühe, ihre Verlegenheit zu überspielen. Auf die Idee, eine andere
Frau mit ›Mutter‹ anzureden, wäre sie nie gekommen, mochte die Betreffende noch
so sympathisch sein. Ihre eigene Mutter, eine Geborene von Hardenberg, war seit
13 Jahren tot, und es gab niemanden, der sie ersetzen konnte.
Als könne
sie Gedanken lesen, atmete Abigail Wentworth tief durch und begutachtete einen Kübel
voller Chrysanthemen, deren Duft sie instinktiv innehalten ließ. »Schön habt ihr’s
hier!«, stellte sie mit belegter Stimme fest, schloss die Augen und sog das Aroma
begierig ein. »Wenn wir gerade von Kindern reden: Was macht eigentlich deine Tochter?«
»Vroni?«
Na schön, jetzt war sie an der Reihe. Jetzt war sie es, die Haltung bewahren musste,
obwohl ihr dies immer schwerer fiel. »Ich wünschte, ich könnte dir eine Antwort
geben.«
»Sie lebt
im Osten, stimmt’s?«
Lea bejahte.
»Kann sein,
dass ich mich irre, aber hat Tom nicht erwähnt, dass sie einen Volkspolizisten …«
»Das trifft
zu, Abigail.«
»… geheiratet
hat?«
»Und auch
wieder nicht.«
Hellhörig
geworden, drehte sich Sydows Mutter um und fragte: »Wie ist das zu verstehen?«
»Gegenfrage:
Willst du das wirklich wissen?«
»Selbstverständlich!«,
versicherte die alte Dame, und es klang, als meine sie es ernst. »Sonst würde ich
nicht
Weitere Kostenlose Bücher