Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
…«
»… das nützt
dem Schlossgärtner jetzt auch nichts mehr, hab ich recht?«
Sprachlos
vor Überraschung, vergaß Tannert sein Brötchen und starrte Sydow mit offenem Mund
an.
Bevor er
die Sprache wiederfand, bahnte sich die Hauptperson des Abends einen Weg durch den
Pulk der angeregt plaudernden Gäste und hielt auf die drei Beamten zu. Kriminalrat
Kurt Augustin, Leiter der Kriminalinspektion I, war in Festtagslaune, und das merkte
man ihm auch an. Lea, die sich in seinem Schlepptau befand, sah hingegen äußerst
angespannt aus. »Hier stecken Sie also, Sydow!«, rief der zukünftige Pensionär schon
von Weitem aus. »Ich habe überall nach Ihnen gesucht!«
»Nach mir?
Wieso denn, Herr Kriminalrat?«
»Jetzt tun
Sie mal nicht so, Sydow. Sie wissen doch genau, was wir mit Ihnen vorhaben.«
»›Wir?‹«
»Ein kleiner
Versprecher, verzeihen Sie.« Augustin strahlte übers ganze Gesicht, anders als Lea,
der schwante, was jetzt gleich passieren würde. »Ach, übrigens: Der Fall, an dem
die Herren gerade arbeiten, wurde durch das LKA kassiert.«
»Ehrlich
gesagt überrascht mich das kaum.«
»Jetzt spielen
Sie nicht den Beleidigten, Tom. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie so nenne,
oder?« Augustin strahlte über das ganze Gesicht, ungeachtet der Tatsache, dass Sydow
keine Miene verzog. »So etwas kommt eben hin und wieder vor.«
»Gut ausgedrückt,
Herr Kriminalrat.«
»Warum so
einsilbig, Tom?«, fragte Augustin, nahm Sydow beiseite und flüsterte: »Interessiert
es Sie denn gar nicht, wer zu meinem Nachfolger auserkoren worden ist?«
»Offen gestanden:
nein.«
»Wie meinen?«
»Falls ich
es bin, den Sie im Auge haben, vergessen Sie’s!«, erwiderte Sydow und hielt Ausschau
nach seiner Frau, die ihn keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. »Ihr Job interessiert
mich nicht im Geringsten.«
Augustin
erbleichte. »Nicht im Geringsten?«, echote er, unfähig, das Gehörte zu verstehen.
»Aber warum denn?«
»Weil ich
es mir leisten kann, darum!«, versetzte Sydow, in einem Tonfall, der weitere Fragen
überflüssig machte. »Schönen Abend noch, Herr Kriminalrat. Und danke für die Einladung.
Tschüss, Kroko, mach’s gut. Und du auch, Horst.« Ein Lächeln auf den Lippen, überwand
Sydow die Skrupel, die ihn bis zuletzt geplagt hatten, suchte den Blick seines Vorgesetzten
und sagte: »Ich kündige, Herr Kriminalrat. Mit sofortiger Wirkung. Komm, Lea, wir
gehen!«
23
Berlin-Mitte bzw. Moabit, Grenzübergang
Invalidenstraße │ 21:55 h
Zunächst hatte sie gedacht, man
würde sie in ein anderes Gefängnis verlegen. Kurz drauf, nach schier endloser Wartezeit
in dem fensterlosen B 1000, hatte sie sich zu fürchten begonnen. Wenige Minuten
später wiederum war sie in Panik geraten.
Ganz allmählich,
etappenweise, Stück für Stück.
Es war dunkel
hier drinnen. Stickig. Und es roch penetrant nach Dieselöl. Veronika von Oertzen,
genannt Vroni, kauerte auf ihrem Sitz und fragte sich, wie viel Zeit seit dem Abtransport
aus dem Gefängnis verstrichen war. 20 Minuten, das Doppelte oder mehr? Sie konnte
es beim besten Willen nicht sagen. Das Zeitgefühl war ihr komplett abhandengekommen.
Und mit ihm jeglicher Orientierungssinn.
Dies allerdings
war nur eine Seite des Problems. Die andere, weitaus beunruhigender, bestand darin,
dass sie nicht wusste, was man mit ihr vorhatte. Seit jeher war Ungewissheit ein
Gräuel für sie gewesen, schlimmer als alles, was sie im letzten halben Jahr mitgemacht
hatte.
Die Ehe
am Ende, keine Aussicht auf Arbeit und ohne Chance, in den Westen zu gelangen. Und
dann, vor drei Tagen, auch noch ihre Verhaftung. Begründung: Verdacht auf Republikflucht.
Schließlich handle es sich, so der Verhöroffizier, bei ihr um die Frau – oder vielmehr
Ex-Frau – eines Hauptmanns der DDR-Volkspolizei. Gerade auf solche Leute müsse man
ein wachsames Auge haben. Der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden
werde nun einmal von Feinden bedroht. Dies müsse man in Betracht ziehen. Wer weiß,
vielleicht sei sie sogar von der CIA eingeschleust worden. Genau wissen könne man
das ja nie.
Es war nicht
der erste Seufzer an diesem Tag, den die 23-jährige Westberlinerin ausstieß. Aber
es war der qualvollste. Alles, aber auch alles würde sie ertragen können. Nur nicht
die Ungewissheit, der sie ausgesetzt war, die Furcht vor dem, was ihr bevorstehen
würde.
Da! Ein
Geräusch von außen, vermutlich der Hebel, mit dem die Schiebetür verriegelt worden
war.
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