Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
Veronika hielt den Atem an. Gleich würde die Tür aufgehen. Dann hatte die Ungewissheit
ein Ende.
Endlich.
Das Erste,
was sie sah, war Licht. Gleißendes, das Innere des Transporters erhellendes Licht.
Scheinwerferlicht.
»Na los,
Bewegung, oder brauchst du eine Extraeinladung?«
Die Handschellen,
welche ihr Blut beinahe am Zirkulieren hinderten, vor dem Gesicht, erhob sich Veronika
von ihrer Bank. Draußen, irgendwo unter freiem Himmel, wartete ein Mann mittleren
Alters auf sie. Sie hatte ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen, weder ihn noch den
Uniformierten, der jede ihrer Bewegungen beobachtete.
Was nun
geschah, durchlebte Veronika wie einen Traum. Kaum im Freien, nahmen sie der Beamte
in Zivil, allem Anschein nach Stasi-Offizier, und der Uniformierte, Angehöriger
der DDR-Grenztruppen, in ihre Mitte. Die junge Frau, immer noch wie betäubt, wusste
nicht, wie ihr geschah, geblendet vom Scheinwerferlicht, welches den Kontrollpunkt,
auf den sie und ihre Bewacher zusteuerten, taghell erleuchtete. Das Licht war so
grell, dass es ihr schwerfiel, die Augen zu öffnen, doch dann, nach etwa 100 Metern,
begann sie zu begreifen.
Nur einen
Steinwurf weit entfernt befand sich ein Schlagbaum, umlagert von Wachtposten, die
sie mit ausdrucksloser Miene musterten. Rechts und links davon verlief eine mehr
als übermannshohe, von Panzersperren, Betonklötzen und Sperrzäunen flankierte Mauer.
Die Mauer.
Und dazwischen
immer wieder Stacheldraht, meterweise, tonnenweise, kilometerweise. Wie eine Schlinge,
die dazu bestimmt war, Berlin die Luft abzuschneiden.
Und dann,
zu ihrer Überraschung, geschah es. Der Schlagbaum öffnete sich.
Allmählich,
die Sandkrugbrücke vor Augen, welche den Spandauer Kanal überspannte, begann Veronika
zu begreifen. Da drüben, jenseits der Brücke, wartete die Freiheit. Direkt vor ihren
Augen, zum Greifen nah.
»Moment,
die Dame. So schnell schießen die Preußen nicht.«
Auf einmal
war sie also wieder ›die Dame‹. Merkwürdig. Bei den Verhören im Gefängnis hatte
sich das alles ganz anders angehört. Da hatte man sie geduzt, beschimpft, bedroht,
ihr alles Mögliche an den Kopf geworfen. Einmal war sie sogar geschlagen worden.
Das war gestern gewesen, am Ende eines mehrstündigen Kreuzverhörs, als einer der
beiden Offiziere die Geduld verloren hatte.
Heute dagegen
wehte ein anderer Wind. Begonnen hatte es vor gut einer Stunde, als eine Wärterin
aufgetaucht war, um ihr das Kleid, das sie bei ihrer Einlieferung gegen Häftlingskleidung
eintauschen musste, zurückzugeben. Und geendet hatte es, indem man sie in den B
1000 gepfercht und hierher transportiert hatte. Kommentarlos, ohne Angabe von Gründen.
Die attraktive,
aufgrund der letzten drei Tage jedoch blass, übernächtigt und angespannt wirkende
Frau sah ihre Begleiter aus dem Augenwinkel an. Aus ihren Gesichtern, stur geradeaus
gerichtet, ließ sich jedoch nichts herauslesen. Irgendetwas auf der anderen Seite
der Brücke schien ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Veronika von Oertzen
kniff die Augen zusammen, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Am Westufer standen
mehrere Personen, und es schien, als seien sie nicht zufällig hier.
Da drüben
tat sich etwas, so viel stand fest. Oder war das alles nur eine Finte, ein Trick,
um sie weich zu klopfen? In der Wahl ihrer Mittel war die Stasi nicht wählerisch,
davon konnte sie ein Lied singen.
»Na, junge
Dame, was sagen Sie jetzt?«, lästerte ihr Bewacher, ein unscheinbar wirkender Anzugträger
mit schütterem Haar. »Großer Bahnhof da drüben. Und alles nur wegen Ihnen.«
»Wegen …«,
begann Veronika, im Begriff, mit einer Gegenfrage zu antworten. Doch dann verstummte
sie.
Auf der
Westseite war eine dunkle Limousine aufgetaucht, hatte kurz aufgeblinkt und war
am Brückenrand, laut Abmachung der Alliierten die Demarkationslinie zwischen Ost
und West, zum Stehen gekommen. Kaum war dies geschehen, stiegen mehrere Männer aus,
allen voran zwei Personen, welche sich nach kurzer Unterredung umdrehten, der Ostseite
zuwandten und mit forschem Schritt auf die Brückenmitte zusteuerten. Dies alles
geschah innerhalb weniger Sekunden, und bevor Vroni sich noch einen Reim darauf
machen konnte, hatten die Männer das Ostufer bereits erreicht, hatten den Schlagbaum
passiert und auf dem Rücksitz eines dunklen Lada Platz genommen, der mit quietschenden
Reifen davonraste.
Und sie?
Die beiden
waren kaum verschwunden, als sich Vronis Bewacher bei ihr einhakten und die junge
Frau zur
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