Eifel-Schnee
ich.
Er war vielleicht zehn Jahre alt und dünn wie ein Hänfling. Er hatte hellblondes Haar über einem schmalen Gesicht mit ganz großen Augen und trug einen Schlafanzug, darüber einen Parka und an den Füßen Pantoffeln. Er wirkte zerbrechlich.
»Da ist Schokolade im Handschuhfach«, erklärte ich.
Er öffnete das Handschuhfach, nahm die Schokolade und brach ein Stück ab.
»Wann hast du gemerkt, daß es brennt?«
»Ich wollte eigentlich rüber zu Ole, wegen Weihnachten. Betty hat gesagt, ich darf kommen. Aber mein Vater hat es verboten, er meinte, ich soll mich nicht immer bei denen rumtreiben. Ich habe gewartet, bis alle schliefen, dann wollte ich rübergehen. Da brannte das aber schon.«
»Wieso glaubst du denn, daß Ole und Betty tot sind? Vielleicht leben sie, vielleicht sind sie einfach rausgelaufen.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ole sagt immer, wenn sie viel Hasch rauchen, ist ihm alles egal. Und wenn er dann säuft, kriegt er gar nix mehr mit.«
»Du weißt ganz sicher, daß sie in der Scheune waren?«
Er nickte nur.
»Wie alt ist sind denn Ole und Betty?«
»Ole ist fünfundzwanzig, und wie alt Betty ist, weiß ich nicht. Aber ich schätze mal, sie ist auch fünfundzwanzig.«
»Und sie leben in der Scheune?«
»Ja.«
»Wie lange schon?«
»Sehr lange«, sagte er. »Als ich im Sommer mal Geburtstag hatte, da waren sie schon in der Scheune.«
»Aber wieso in der Scheune?«
»Weil Ole immer Krach mit Papa hatte. Und weil Papa immer sagt, Ole soll ihm aus den Augen gehen, sonst schlägt er ihn noch mal tot. Deswegen. – Ich glaube, da geht jetzt einer von den Feuerwehrleuten rein.« Seine Stimme überschlug sich plötzlich, und er öffnete die Tür und rutschte hinaus. Wieselflink rannte er durch den Schnee, eine ganz schmale, verlorene kleine Figur, beladen mit der irrwitzigen Hoffnung, Ole und Betty könnten grinsend aus dem Feuer auftauchen und sich über ihn amüsieren – ihn aber auch in die Arme nehmen.
Radio RPR brachte in den Nachrichten die Meldung, daß der Heilige Abend in Jerusalem außergewöhnlich friedvoll verlaufen sei und daß der Heilige Vater in Rom die Hoffnung hege, diese Welt werde endlich ein ruhigerer Hort.
Zwei schnelle BMW erreichten das Gelände, schwarz lackiert, Blaulicht. Es waren sieben Männer, Brandexperten wahrscheinlich, vielleicht ein Teil der Mordkommission aus Wittlich. Es schneite in großen, dicken Flocken.
Unmittelbar vor der brennenden Scheune stand eine Gruppe zusammen; die Menschen diskutierten wild. Ihre tiefschwarzen Umrisse vor dem Feuer wirkten wie ein perfekter Scherenschnitt. Zwei Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten gesellten sich zu der Gruppe. Jetzt war nur noch schwer auszumachen, wer hier etwas zur Brandbekämpfung beitrug oder wer einfach nur Zuschauer war.
Aus den nächsten zwei Polizeiwagen stiegen acht Beamte, und sie begannen, die Zuschauer zurückzudrängen. Sie machten es langsam, freundlich, aber unerbittlich. Ich erblickte auch den massigen Mann wieder, der so verzweifelt nach Ole geschrien hatte. Er ging gebeugt auf die Frau im Nachthemd zu, legte ihr einen Arm um die Schultern und redete mit ihr. Er wirkte behutsam. Dann bewegten sie sich langsam von der brennenden Scheune fort und verloren sich auf dem Wiesenweg zu ihrem Hof. Der Kleine, der sich Schappi nannte, war nicht bei ihnen. Plötzlich sah ich ihn, wie er mit kleinen Schritten, sich dauernd zum Feuer umblickend, auf mich zukam.
Er öffnete die Beifahrertür. Sein Gesicht war ganz verschmiert von Asche und Ruß. Er weinte vollkommen lautlos, legte die Hände auf die Autokonsole und starrte hinunter auf seine Füße. Er konnte wohl das Feuer nicht mehr ertragen. Merkwürdigerweise sprach er so kühl, als gebe er einen sachlichen Kommentar.
»Sie sagen, sie holen jetzt Ole und Betty raus.«
»Das ist wohl so«, nickte ich.
»Verbrennen Menschen total?«
»Ich weiß es nicht.« Ich war plötzlich wütend auf Dinah, daß sie nicht neben mir hockte und den Jungen in die Arme nehmen konnte. »Soll ich dich nach Hause fahren? Zu deinen Eltern?«
Er schüttelte energisch den Kopf.
»Es wäre aber besser«, meinte ich. »Deine Mutter wird dich jetzt brauchen. Ole ist weg, aber du bist noch da, verstehst du.«
Feuerwehrleute trugen zwei lange schwarze Wannen herbei und stellten sie ab.
Ich startete den Motor. »Du frierst«, sagte ich. »Du holst dir den Tod.«
Ich fuhr aus der Wiese heraus und kurvte durch die geparkten PKW. »Weißt du denn, was Ole mit
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