Eifler Zorn
nicht mehr zu erkennen. Über den Boden verteilten sich
Schuhe, ein ausgekipptes Federmäppchen und die Verpackungen von Schokoriegeln.
»Sehr heimelig«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf das Chaos, während ich
mich mühsam beherrschte, nicht auszuflippen. »Wie wäre es mit Aufräumen?«
»Mach ich später.«
»Nein, ich finde, du
solltest das jetzt machen.«
»Ich hab jetzt keine Zeit.«
»Wofür hast du keine Zeit?«
Hermann hatte sich hinter mich geschlichen und schaute über meine Schulter in
Henrikes Zimmer. Er lachte. »Wieso kommt mir das so bekannt vor?« Er warf mir
einen Blick zu und schüttelte übertrieben den Kopf. »Aber nein, das kann ja
nicht sein. Da täuscht mich meine Erinnerung sicher.« Mit großzügiger Geste
legte er seine Hand auf meine Schulter. »Du, meine liebe Ina, hast immer ein
aufgeräumtes Zimmer gehabt in diesem Alter. Wie aus dem Ei gepellt. Man konnte
quasi vom Boden essen.«
Henrike grinste, kam auf
Hermann zu und umarmte ihn kurz.
»Soll ich dir helfen?«, bot
Hermann an. »Ein Genie beherrscht zwar das Chaos, aber so begabt und genial,
dass es hierfür reicht, bist du nicht.«
Henrike nickte. Ich
verdrehte die Augen. Hermann hatte die Geduld mit Kindern, die mir fehlte.
»Ich wüsste aber trotzdem
gerne, wo du bist und wo ich dich erreichen kann.«
»Willst du mich stalken?«
»Nein, natürlich nicht. Aber
es kann immer etwas sein. Du weißt auch immer, wo du mich finden kannst.«
»Was bei deinem Job ja auch
nicht so schwierig ist.«
»Henrike«, brauste ich auf,
bereit, ihr über den Mund zu fahren, aber Hermann hob beschwichtigend die Hand.
»Wir räumen jetzt erst mal
hier auf. Dann redet es sich auch besser.« Mit diesen Worten schob er mich aus
der Tür und schloss sie vor meiner Nase.
»Reg dich nicht auf«, rief
Amalie mit ihrer dunklen Stimme aus der Küche. »In dem Alter sind sie so.
Schrecklich. Nervenaufreibend. Eigentlich müssten sie ein Schild am Kopf haben,
auf dem ›Wegen Umbau geschlossen‹ stünde. Und Henrike hat es durch den Verlust
ihrer Mutter doppelt schwer.«
»Ihre Therapeutin meint, sie
sei auf einem guten Weg, alles zu verarbeiten.« Ich ging zurück in die Küche
und setzte mich Amalie gegenüber an den Tisch. »Trotzdem mache ich mir Sorgen.
Diese schwarzen Klamotten, die dicke Schminke, die Musik – sie ist erst
dreizehn. In dem Alter habe ich Baumhäuser gebaut.«
»Tja, ja, die Jugend.«
Amalie zwinkerte mir zu. »Lass ihr die Freiheit, die sie braucht. Sie muss
lernen, erwachsen zu werden.«
»Und ich muss lernen, so was
wie eine Mutter zu sein.«
Dumpfes Wummern drang
aus Henrikes Zimmer, als Hermann und Amalie sich gegen halb neun
verabschiedeten. Ich lauschte und musste grinsen. So unterschiedlich war unser
Geschmack dann doch nicht, auch wenn Henrike sich vermutlich eher die Zunge
abgebissen hätte, als zuzugeben, dass sie die gleichen Lieder mochte wie ich.
Zumindest in diesem Fall. Jupiter Jones. Ich hab so viel
gehört und doch kam’s niemals bei mir an. In voller Lautstärke. Leise
sang ich mit und machte mich daran, die Reste unseres gemeinsamen Abendessens
wegzuräumen. Wir hatten alle zusammen meine Tiefkühlvorräte an Pizza dezimiert
und in erstaunlich friedlicher Runde am Esstisch gesessen. Das Handy, das
Henrike heute Morgen recht unsanft aus dem Klassenfenster befördert hatte,
gehörte einer Mitschülerin, die in ihren Augen eine »echte Bitch« war und
Vergnügen darin fand, andere zum Opfer zu machen, was in Henrikes Augen gar
nicht ging. Luisa sei voll fertig gewesen, weil das Mädchen ein heimlich
aufgenommenes Video von ihr in der Schule rumgezeigt hatte. Nachdem sie das für
Amalie und Hermann übersetzt und erklärt hatte und die beiden sie darin
bekräftigten, Schwächere zu schützen, blieb mir nur noch eine Bemerkung zur
Verhältnismäßigkeit der Mittel. Zumal es der Sache dienlicher gewesen wäre,
wenn sie das Handy mit dem kompromittierenden Film nicht zerstört, sondern als
Beweis gesichert hätte. Eine Mitschülerin über die Abtrennwand der Toilette zu
filmen, verletzte die Persönlichkeitsrechte. Auch wenn nicht direkt mit einer
Strafanzeige gedroht werden musste, war der handfeste Beweis ein guter
Ansatzpunkt, um mit den Tätern und deren Eltern ein intensives Gespräch zu
führen.
»Luisa ist immer so still.
Sie lässt sich einiges gefallen, was ich mir nicht bieten lassen würde. Sie
wehrt sich nicht. Obwohl ich immer versuche, ihr zu sagen, dass sie die Zicken
sonst nie loswird.
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