Eifler Zorn
die
Herrschaftshäuser zu beliefern.«
»Danke!«
Paul strahlt. »Vielen Dank!«
Wieder
lacht der Krämer. »Schon gut. Wir werden sehen, ob du wirklich so viel kannst,
wie du sagst. Und jetzt beeil dich.«
Paul
rennt los. Am liebsten würde er Freudensprünge veranstalten. Stattdessen läuft
er noch schneller, umklammert den Kohlkopf und überlegt, was er anziehen soll,
um so adrett auszusehen wie der Krämer. Er wird sein Bestes geben, schnell und
freundlich die Kundschaft bedienen, auf Ordnung achten und dem Krämer
gehorchen. Das ist seine Chance. Hier wird er mehr verdienen als in der Fabrik,
und als Helfer in einem Lebensmittelgeschäft fallen vielleicht ab und an für
ihn Leckereien ab, die, so wie der Kohl heute, nicht mehr gut genug für die
feineren Leute sind. Kein Hunger mehr. Genug für alle. Er wird dem Krämer das
Heft zeigen, ihm beweisen, dass er begriffen hat, was die Zahlen bedeuten, und
vielleicht kann er ihn sogar bitten, ihn noch mehr zu lehren.
Die
letzten Stufen bis zu ihrer Wohnung nimmt er im Laufschritt. Er klopft nur
kurz, dann reißt er die Tür auf und stürmt ins Zimmer. »Es wird alles gut
werden!«
Für einen
Augenblick kann er in dem schummrigen Licht, das durch das einzige kleine
Fenster dringt, nichts erkennen. Dann entdeckt er seine Mutter. Sie kniet auf
dem Boden neben den Decken, die Emmas Krankenlager bilden, und umklammert die
Hand seiner Schwester. Die beiden Kleinen warten stumm neben ihr, krallen sich
mit einer Hand an einem Zipfel ihres Rockes fest. Paul kommt näher. Emma liegt
reglos.
»Sie ist
tot«, flüstert die Mutter. »Sie ist tot.«
***
Ein Parkplatz direkt vor
der Haustür wäre jetzt genau das Richtige, dachte Judith, wurde aber wie jeden
Abend, seit sie hier wohnte, enttäuscht. Die Blücherstraße war laut den
Aussagen ihrer Bewohner Bonns schönste Häuserzeile und dementsprechend beliebt.
Altbauten, die meisten restauriert, großzügige Vorgärten und breite Bürgersteige
ließen die hochherrschaftliche Vergangenheit von Poppelsdorf anklingen, auch
wenn bei genauerem Hinsehen blaue, gelbe und cremefarbene Abfalltonnen hinter
den Zäunen und Mauern sehr deutlich die Gegenwart anzeigten. Sie hatte lange
nach einer Wohnung gesucht, Bekannte und Freunde gefragt und sich schließlich
für die Gegend um die Argelanderstraße entschieden. Hier gab es alles, was sie
in ihrer kargen Freizeit benötigte. Supermarkt, Bäcker, Friseur und einige
Restaurants, die sie in den nächsten Wochen auszuprobieren gedachte. Bis zum
Präsidium waren es nur sechseinhalb Kilometer, mit dem Wagen je nach
Verkehrslage eine gute Viertelstunde, mit dem Fahrrad, je nach ihrer Lust und
Laune, weniger. Schon als sie um die Ecke in ihre Straße bog, bremste sie ab und
rollte in langsamem Tempo an den Autos vorbei, die dicht an dicht, wie Spatzen
auf einer Stromleitung, am rechten und linken Rand hockten. Nach drei Runden um
den Block konnte sie endlich einen abfahrenden Mercedes abpassen und stellte
ihren roten Mini in die frei gewordene Lücke, wobei sie darauf achtete, so
dicht wie möglich an der Stoßstange des hinteren Wagens zu parken. Hier war
jeder Zentimeter Platz wertvoll.
Das Zauntor stand offen, und
sie ging mit wenigen Schritten durch bis zur Haustür. Sie fischte den
Briefkastenschlüssel aus ihrem Bund und nahm die Post aus dem Kasten links
neben der Tür, ohne weiter hinzuschauen. Vermutlich waren es sowieso nur
Rechnungen. Ihre Sohlen scharrten über die alten Marmorstufen, als sie hinauf
zu ihrer Wohnung stieg.
»Ich hab für uns gekocht.«
»Kai!« Judith ließ ihre
Tasche fallen und drückte die Tür zu ihrem Appartement ins Schloss. »Was machst
du hier?«
»Auf dich warten. Du hast
mir einen Schlüssel gegeben.«
»Wie lange bist du hier?«
»Hierfür hat es gereicht.«
Kai Rokke Hornbläser saß auf dem Sofa und hielt eine Frauenfigur von der halben
Größe seines kleinen Fingers in die Höhe. Den linken Arm streckte sie mit zur
Faust geballter Hand hoch. Unter ihren nackten Brüsten fiel ein Tuch wie eine
Toga in Falten hinab. »Darf ich vorstellen: Nannie. Genauer gesagt die Hexe
Nannie. Ihres Zeichens Galionsfigur.«
»Neues Modellschiff?«
»Die Cutty Sark diesmal.
1869. Englischer Teeklipper. Superschnelles Schiff.« Er strich zärtlich über
die Figur.
»Okay.« Judith hob ihre
Tasche auf und legte sie auf den Stuhl neben dem Tisch, auf dem bereits zwei
Teller samt Besteck, Gläsern und einer kleinen Kerze standen. »Wie lange
bleibst du?«
Kai
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