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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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bevor es mit einer fließenden Bewegung in einer Lücke
zwischen den Steinen verschwindet.
    Er hebt
den Kopf und sieht sich um. Es ist beinahe Mittag. Er blinzelt gegen die Sonne.
Er denkt an seine kleinen Geschwister. Ihre erwartungsvollen Gesichter. Denkt
an Emma, die gesund werden muss, und an die Mutter. Er versucht zu begreifen,
was da gerade mit ihm geschieht. Sie haben ihm keine Chance gegeben, auf keines
seiner Worte gehört und seine Bitten, ihn nicht zu entlassen, mit
gleichgültigen Blicken quittiert und sich von ihm abgewandt. Die Mutter hat
recht behalten. Leuten wie ihnen ist es nicht bestimmt zu denken, und wenn
doch, dann bringen einen die Gedanken nur in Schwierigkeiten. Er dreht sich um,
schlendert auf das Eingangstor der Fabrik zu. Mit beiden Händen umklammert er
die kalten Eisenstäbe des Gitters, die trotz der wärmenden Sonne Kälte
ausströmen. Wie die Augen des Fabrikanten. Paul lehnt sich an die Stäbe, presst
seine Stirn dagegen, bis es schmerzt. Er wird nicht darum betteln, wieder
eingelassen zu werden. Seine Schutzvorrichtung hätte den Arm des Mannes retten
können. Seine Idee ist eine gute Idee. Und er wird noch mehr Ideen haben, wenn
man ihn nur lässt. Er stößt sich vom Gitter ab und wandert die Straße entlang.
Ziellos und ohne Zeitgefühl. Er braucht so schnell wie möglich eine neue
Arbeit.
    Der
Krämerladen liegt auf dem Weg nach Hause in einer feineren Gegend. Wenn er am
frühen Morgen oder am späten Abend hier entlangkommt, trifft er nur Lieferanten
oder andere Arbeiter, die zu ihren Arbeitsstätten eilen. Jetzt stehen einige
Frauen davor, betasten die Auslagen, drehen und wenden den Salat. Der Krämer
eilt in seinem weißen steifen Kittel zwischen den Käuferinnen hin und her,
wiegt ab, verpackt und nickt verabschiedend und grüßend zugleich in alle
Richtungen. Unbemerkt streift sein Arm eine Kiste mit Gemüse. Ein Kohlkopf
fällt auf den Boden, rollt einige Meter über den Bürgersteig und bleibt vor
Pauls Füßen liegen. Er bückt sich, hebt ihn auf und hält ihn in den Händen.
Niemand beachtet ihn. Der Krämer, in ein Gespräch mit einer seiner Kundinnen
vertieft, hat ihm den Rücken zugewandt. Es wäre so einfach. Umdrehen und gehen.
Eine Suppe für Emma. Er bleibt stehen und starrt auf das Gemüse. Sie haben ihn
einen Aufrührer geschimpft und nur das Schlechteste von ihm gedacht. Was würde
es in den Augen der anderen noch für einen Unterschied machen? Er schüttelt den
Kopf und geht entschlossen auf den Stand zu. Wichtig ist, dass es für ihn einen
Unterschied macht. Er ist kein Dieb.
    »Hier«,
sagt er, tippt dem Krämer auf die Schulter und streckt ihm den Kohl entgegen.
»Der ist eben aus Ihrem Korb gefallen.«
    Der
Krämer dreht sich um und mustert Paul, sagt aber nichts.
    »Ich habe
ihn aufgehoben.« Der Kohlkopf liegt immer noch auf seiner Hand. Er stößt sie
weiter vor, aber als der Mann sich immer noch nicht rührt, zuckt er mit den
Schultern, legt ihn auf die Kiste zu den anderen und drückt sich an dem Krämer
vorbei auf die Straße.
    »Warte.«
    Paul
bleibt stehen, schaut über die Schulter zurück. »Ja?«
    »Das ist
sehr nett von dir, mein Junge.« Wieder dieser musternde Blick. Auf seine
Kleidung, an der noch der Dreck und der Staub der Fabrik hängen, auf seine
Haare, die ungewaschen und viel zu lang unter seiner Mütze hervorlugen. Auf
seine Schuhe, die ihm zu klein sind und deren vordere Spitzen von seinen Zehen
ausgebeult werden.
    Der
Krämer reicht ihm den Kohlkopf. »Hier, nimm ihn. Du kannst ihn behalten.« Als
Paul sich nicht rührt, macht er einen Schritt auf ihn zu. »Ich kann ihn sowieso
nicht mehr verkaufen. Er hat jetzt eine Beule. Also nimm ihn schon.«
    »Haben
Sie eine Arbeit für mich?« Sein eigener Mut erstaunt ihn.
    »Gehst du
nicht dort drüben hin?« Der Kopf des Krämers ruckt in Richtung Fabrik. Paul
schüttelt den Kopf.
    »Ich bin
stark und kann gut anpacken.«
    »Das
glaube ich.«
    »Ich kann
die Kisten aus dem Lager holen und die Waren ausbringen, ich kann kehren und
putzen, das Gemüse sortieren, ich kann rechnen, ich …«
    »Es
reicht, es reicht«, unterbricht der Krämer ihn lachend, »ich glaube dir ja.« Er
verschränkt die Arme vor der Brust und mustert Paul erneut, diesmal mit einem
anderen, wohlwollenden Blick. »Du gefällst mir. Du bist ehrlich. Geh nach Hause
und wasch dich. Zieh saubere Kleidung an, und dann kommst du wieder. Ich werde
es mit dir probieren. Du kannst mir heute Nachmittag helfen,

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