Eifler Zorn
verstand.
»Bianca.«
»Steffen.« Er reichte ihr
die Hand. »Du bist nicht von hier?«
»Nein.« Sie war nicht
hergekommen, um zu flirten. Und sie war nicht hergekommen, um einem Fremden
ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie war hier, um sich etwas zu beweisen. Er
würde nicht kommen, um sie ein zweites Mal zu sehen. Gestern, danach, hatte sie
ihm erzählt, dass sie den Club mochte. Das Familiäre, ohne dazugehören zu müssen.
Er wusste, wo er sie finden konnte. Dass er nicht kam, zeigte, dass sie recht
hatte. Sie war Wegwerfware. Für einen wie ihn keine echte Alternative. Sie
trank mit einem Zug ihr Bier aus und stellte das Glas zur Seite. Der neben ihr
an der Theke war zu nett, um sich auf ein kurzes Abenteuer mit ihm einzulassen.
Die Angst vor der Enttäuschung hielt die Versuchung in Schach.
»Noch eins?«
»Danke.« Sie versuchte echte
Freundlichkeit. »Nein. Ich muss morgen früh arbeiten und kann es mir nicht
leisten, zu spät schlafen zu gehen.« Eine gnädige Notlüge. Für ihn. Für sich
selbst. Sie drehte sich um und fühlte im selben Moment einen harten Griff an
ihrem Oberarm.
»Was will der von dir?«
Mühsam kontrollierte Wut und unterdrückter Zorn atmeten aus jeder seiner Poren,
aber das war ihr egal. Er war da. Zog sie zu sich herum. Sie presste sich an
ihn und löste mit der freien Hand seine Finger von ihrem Arm, stellte sich auf
die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Er war gekommen. Zu ihr. Wegen
ihr.
»Er war so freundlich, mir
ein Bier auszugeben. Gerade wollte ich gehen.« Sie umfasste seine Hüften. »Ich
hatte nicht damit gerechnet, dass du noch kommst.«
»Also schmeißt du dich
direkt an den Nächsten ran?«, presste er hervor und drückte sie mit dem Rücken
gegen die Theke.
»Hör mal, Arno. Mach hier
keinen Ärger«, mischte sich Steffen ein. »Wir haben uns nur kurz unterhalten.«
Er wandte den Blick von ihr
ab. »Und das soll ich dir glauben?« Drohend schob er sich vor ihn.
»Komm schon.« Sie strich ihm
über die Wange. »Jetzt bist du doch da.« Mit den Fingerspitzen zwang sie sein
Gesicht wieder in ihre Richtung und küsste ihn auf den Mund. Er befreite sich
mit einem Ruck aus ihrer Umklammerung.
»Behalt deine Finger bei
dir, Förster. Sonst klopf ich dir drauf.«
»Immerhin habe ich nicht
Frau und Tochter zu Hause sitzen.« Steffen stieß sich von der Theke ab, stellte
sein Glas ab und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Halt Sandra und Luisa da
raus«, brauste Arno auf und wollte ihm hinterher, aber Bianca hielt ihn zurück.
»Stimmt das?«
»Was?«
»Dass du Familie hast?«
Statt einer Antwort umfasste
er wieder ihren Arm und zog sie mit sich nach draußen, ohne auf die Blicke der
anderen Besucher zu achten. Erst als sie auf der Straße angelangt waren und die
Lichtkegel der Parkplatzbeleuchtung hinter sich gelassen hatten, blieb er
stehen. Er drehte sich zu ihr um, holte aus und versetzte ihr einen Faustschlag
ins Gesicht.
SECHS
Emmas Hand fühlt sich kalt und steif an, ihre Wangen, über die Paul
sanft streicht, haben alle Farbe verloren. Bleich, die Lippen aufgesprungen,
ist seine Schwester nur noch eine Hülle. Der Schmerz überfällt ihn wie ein
gieriges Tier. Er frisst sich durch seine Brust direkt in seine Seele, löscht
alles aus, was ihm heute widerfahren ist. Alles Leid und alle Freude
verblassen, sind nichts, haben keine Bedeutung mehr. Emma ist tot. Seine Emma.
Er schluchzt, ohne es zu hören, zittert, ringt nach Luft. Nur das Brennen in
seiner Kehle und die Kälte in seinen Muskeln erinnern ihn daran, dass er noch
lebt. Er hat gewusst, dass das passieren kann, hat es schon einmal erlebt, vor
Jahren, als er kleiner und sein größerer Bruder mit einem Mal nicht mehr da
war. Er hat es gewusst und es sich doch nicht vorstellen wollen.
»Heute
Nacht halten wir die Totenwache«, flüstert die Mutter leise und berührt Paul
zaghaft. Seine Finger schließen sich um ihre und drücken sie. Er wird da sein.
Für einen
kurzen Moment denkt er an den Krämer. Seine Hoffnungen, seine Chancen. Der Mann
wird auf ihn warten. Vergeblich. Ob er ihm danach noch eine Chance geben wird,
wenn er von Emmas Tod erfährt? Paul weiß es nicht. Er weiß nur, dass sein Platz
jetzt hier ist. Bei seiner Familie, für die er sich verantwortlich fühlt. So
oder so.
»Ist
jemand im Haus?« Schläge donnern gegen die Tür, Paul schreckt hoch. Er ist
neben Emma eingeschlafen. Sie haben sie auf das Bett gelegt, ihre Hände
gefaltet, das Kinn mit einem Tuch
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