Eifler Zorn
im
Chor, schließen zu einer dichten Reihe auf und folgen ihm im Gleichschritt.
»Wir
haben dich aus Umständen befreit, die dein Leben unweigerlich in falsche Bahnen
gelenkt hätten. Bei uns wirst du lernen, auf dem richtigen Pfad zu wandeln.«
Der Direktor klappt die Akte zu und sieht auf. Ein wohlwollendes Lächeln. Kalte
Augen. »Aufstehen und ankleiden um halb sechs, anschließendes gemeinsames
Gebet, um sechs Uhr Frühstück. Arbeitsbeginn um halb sieben. Mittagessen um
zwölf, Abendessen mit anschließendem Gottesdienst um halb sieben. Ab neun Uhr
herrscht Nachtruhe, die wir streng einhalten. Wer sich unerlaubt aus dem Bett
entfernt oder bei unkeuschen Handlungen erwischt wird, hat mit harten Strafen
zu rechnen.«
»Entschuldigen
Sie bitte, aber ich glaube, das ist ein Irrtum«, wagt Paul sich vor, »ich muss
mich zu Hause um meine Familie kümmern. Geld verdienen. Meine Mutter und meine
kleinen Geschwister brauchen mich. Ich kann nicht hier …«
»Unterbrich
mich nicht!«, donnert der Direktor, springt mit unerwartetem Elan, der nicht zu
seiner dicklichen Statur passt, auf und kommt mit erhobenem Zeigefinger um den
Schreibtisch herum auf Paul zu. »Wage es nie wieder! Hörst du?«
»Aber
ich …«
»Nie!
Wieder!« Der Direktor beugt sich vor und mustert Pauls Gesicht aus der Nähe,
wie man ein wildes Tier betrachtet, vor dessen Bissen man sich in Acht nehmen
muss. »Hast du keinen Respekt gelernt? Weißt du nicht, dass es sich nicht
gehört, Erwachsenen ins Wort zu fallen? Oder bist du etwa einer von diesen
Aufwieglern? Diesen Arbeitern aus den Fabriken, die meinen, sie hätten Rechte
und müssten dafür kämpfen, aber dabei nicht über den Tellerrand ihrer Armut
hinausblicken können?«
»Nein,
Herr Direktor, das bin ich nicht«, antwortet Paul und merkt, wie ihm die Stimme
versagt.
»Dann
fällt es dir vielleicht schwer, die Gnade dessen zu begreifen, was ich dir
gerade gesagt habe? Ist es so? Bist du ein Dummkopf?«
Paul biss
sich auf die Lippen. »Nein.«
»Gut.
Wann deine Zeit hier beendet sein wird, entscheide ich. Sonst niemand.« Er
lächelt wieder. »Und ich glaube, dass du bis dahin viel Zeit haben wirst zu
lernen, wie man anderen mit Respekt begegnet.« Er geht zur Tür. »Komm mit. Ich
führe dich zu deinem Meister.«
***
»Wann sind Sie heute
Morgen auf der Baustelle eingetroffen?« Judith klappte ihr neues Notizbuch auf.
Ein Geschenk von Kai. Sie hatte ihm von der Begeisterung erzählt, mit der sie
als Kind die Abenteuer der Fünf Freunde verschlungen hatte, und behauptet, ihre
Entscheidung, Polizistin zu werden, wäre schon damals beim Lesen der
Detektivgeschichten gefallen. Ein originaler Buchdeckel ihres Lieblingsbandes
»Fünf Freunde auf dem Leuchtturm«, wie sie ihn aus ihrer Kindheit kannte, war
als Einband für die Ringkladde verwendet worden. Dazwischen gab es viele leere
Seiten für ihre Notizen. Ganz zum Schluss konnte sie das letzte Kapitel des
Buches mit der Aufklärung des Falles noch einmal nachlesen. »Zur Motivation«,
hatte Kai grinsend angemerkt, »falls es mal nicht so gut läuft.«
»Wie immer. Halb sieben. Um
sieben kommen die Arbeiter. Ich bin gerne etwas früher vor Ort.«
»Ist Ihnen etwas
aufgefallen?«
»Nein.«
»Können Sie mir kurz
beschreiben, was Sie genau gemacht haben?«
Der Bauleiter hob seinen
Helm, den er die ganze Zeit über nicht abgesetzt hatte, an und kratzte sich
darunter. »Das Übliche halt. Ich komme, schließe den Container auf und mache
mir erst mal Kaffee. Sortiere ein paar Papiere, prüfe Warenbestellungen und
schaue kurz auf die Dienstpläne.«
»Und das war heute auch so?«
»Ja.«
»Sie haben die Leiche also
nicht sofort entdeckt?«
»Nein. Erst als ich
nachsehen ging, ob die Schuttlaster, die wir geordert hatten, ausreichen
würden. Gestern sind wir durch die Arbeit Ihrer Kollegen ja in Verzug geraten.«
Judith ignorierte den leisen
Vorwurf, den sie in der Stimme des Bauleiters zu hören glaubte. »Können Sie mir
ungefähr sagen, um wie viel Uhr das war?«
»Muss vor sieben gewesen
sein. War sonst noch keiner hier.«
»Haben Sie versucht, dem
Toten Erste Hilfe zu leisten?«
Der Bauleiter schüttelte den
Kopf. »Hab von oben doch direkt gesehen, dass da nichts mehr zu machen war.«
Ein kurzes Lächeln zuckte über sein Gesicht. »Ich gucke Tatort. Einen
Leichenfundort darf man nicht betreten. Und nachdem gestern Ihre Kollegen schon
alle Spuren gesichert hatten, dachte ich mir …«
»Judith?« Ina stand in
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