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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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weil sich niemand um
sie kümmert. Weil sie gestohlen haben, aufsässig sind oder ohne Eltern. Aber
all das trifft auf ihn nicht zu. Sie haben sich geirrt. Er muss versuchen,
dieses Missverständnis aufzuklären. So schnell wie möglich.
    »Wir sind
da«, sagt die Frau, als sie vor einem großen Haus angelangt sind. Eines der
hochherrschaftlichen Anwesen, wie sie weiter zur Ortsmitte hin die Straße
säumen. Hohe Sprossenfenster über zwei Etagen. Eine Treppe führt zur Haustür,
gesäumt von zwei Mauern. Nur ein einfaches Schild weist auf den Zweck des
Gebäudes hin. Sie klingelt. Im Inneren knallen Schritte wie kleine Explosionen,
und schließlich öffnet sich die Tür.
    »Treten
Sie ein, Frau Meybach«, sagt der Mann im grauen Kittel. Sie werden also bereits
erwartet. »Sie bringen uns einen neuen Schützling?« Die Angesprochene verharrt
an der Schwelle.
    »Hier
sind seine Papiere.« Sie überreicht dem Mann einen dünnen Umschlag. »Aus den
Formularen können Sie die Umstände erkennen. Ich bin sicher, Sie werden wissen,
was das Beste in diesem Fall ist.« Sie tritt zurück, geht rückwärts die oberste
Stufe hinunter und hebt grüßend die Hand. »Ich darf mich verabschieden. Mein
Zug fährt in einer Dreiviertelstunde. Es wäre nicht gut, ihn zu verpassen.«
    »Selbstverständlich.«
Der Mann im Kittel lächelt und deutet eine Verbeugung an. »Ich wünsche Ihnen
eine gute Reise, Frau Meybach.« Er wendet sich Paul zu, und das Lächeln
verschwindet. »Nenn mir deinen Namen.«
    »Paul.
Weber, Paul.«
    Der Mann
nickt. Dann dreht er sich um und durchquert den Flur mit schnellen Schritten,
bis er am anderen Ende an einer weiteren Tür angekommen ist, ohne auf den
Jungen zu achten, der mitten im Gang den Boden mit einem Schrubber bearbeitet
und Paul mit einem gehetzten Blick bedenkt. Paul beeilt sich, dem Mann zu
folgen.
    »Zieh die
Jacke aus.« Der Mann deutet auf eine Reihe Haken an der kahlen Wand, klopft an
eine Tür und hält sie mit ausgestrecktem Arm auf. »Herr Direktor Lülsdorf wird
dich jetzt empfangen.«
    Paul
gehorcht mit gesenktem Kopf der Anweisung, während der Mann hinter ihm die Tür
schließt und ihn mit dem Direktor allein lässt, der an seinem Schreibtisch
sitzt, in einer Akte blättert und Notizen macht. Licht, das durch ein großes
Sprossenfenster hinter ihm fällt, malt ein Muster aus Gitterlinien auf das Holz
der Tischplatte, seine Hände und seinen Kopf.
    »In
unserem Bildungsheim für Handwerker verfolgen wir die Prinzipien der Tugend und
des Christentums«, sagt er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Pünktlichkeit,
Fleiß und Nächstenliebe.«
    Durch das
Fenster erkennt Paul eine Werkstatt. Jungen unterschiedlichsten Alters stehen
an schmalen Tischen, bearbeiten ihre Werkstücke, feilen, sägen und schrauben
mit ernsten Gesichtern, in denen sich nichts regt. Männer in grauen Kitteln schreiten
zwischen den Tischen hindurch, bleiben stehen, begutachten, nicken.
    »Du hast
großes Glück, einen Platz in unseren Reihen gefunden zu haben. Die Gemeinschaft
wird deine Familie sein, die dich aus deinem bisherigen Elend befreit und dir
Zuwendung und Vertrauen schenkt.«
    An einem
der Arbeitstische rutscht einem Jungen das Werkstück aus der Hand. Es gleitet
zu Boden und zerbricht. Der Junge zuckt zusammen und bückt sich, aber noch
bevor er wieder aufgestanden ist, steht einer der Graukittel neben ihm. Dessen
Gesicht verzerrt sich, die Adern und Sehnen an seinem Hals treten hervor, er
schreit, während er gleichzeitig ausholt und zuschlägt. Der Kopf des Jungen
fliegt zur Seite, schützend hebt er die Arme, um weitere Schläge abzufangen.
Der Mann wendet sich ab, kommt zurück, greift eines der Teile und schmettert es
auf die Werkbank. Mit zitternden Händen versucht der Junge, die Überreste
wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
    »Die
harte Arbeit mit deinen eigenen Händen ist mehr als nur das Erlernen eines
Handwerks, das dir später ein Auskommen schaffen soll. Sie ist der Weg, den wir
dir bieten, wieder zu einem gottgefälligen Leben zu finden und deinem Kaiser
ein guter Untertan zu sein.«
    Eine
Sirene ertönt. Sie ist nicht nur im Büro des Direktors zu hören, sondern auch
in den Werkstätten. Wie auf ein Kommando legen die Jungen ihre Arbeiten nieder,
treten an die Seiten der Tische und stellen sich mit angelegten Armen und
zusammengepressten Hacken hintereinander auf, das Kinn erhoben, die Augen starr
nach vorne gerichtet. Einer der Männer brüllt etwas, die Jungen antworten

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