Eifler Zorn
zu
Hause. Judith konnte sich nicht daran erinnern, seit dem ersten Tag ihrer
Ausbildung jemals auch nur eine Stunde gefehlt zu haben. Nicht wegen Krankheit
und schon gar nicht, weil sie keine Lust hatte. Sie blinzelte, sah auf die Uhr
und setzte den Blinker. Es gab für alles ein erstes Mal.
Das Einkaufen machte ihr
Spaß und ließ sie die Eifel, die Toten, Sauerbier und Ina vergessen. Es tat
gut. Der Kopfschmerz rutschte in den Hintergrund, verlor an Schärfe, obwohl ein
ständiges leises Pochen ihn nicht vergessen ließ. Judith roch an Tomaten,
befühlte Gurken und suchte die Äpfel mit der schönsten Farbe heraus. Mit vollen
Einkaufstüten verließ sie den Laden, als ihr Blick auf den Friseur fiel. Sie
zögerte, stellte die Tüten ab und betrachtete ihr Spiegelbild im Schaufenster.
Dann gab sie sich einen Ruck.
Als sie anderthalb Stunden
später wieder an der gleichen Stelle stand, kannte sie die Frau, die ihr dort
entgegenblickte, nicht, aber das, was sie sah, gefiel ihr. Sie hatte sich
gewandelt. Kein braves Mädchen mehr. Die Last der langen blonden Haare
Geschichte. Eine Strähne nach der anderen war auf den Boden geglitten und hatte
bei ihr eine seltsame Mischung aus Bangen und Hoffnung hinterlassen. Am Ende
hatte sie nichts als Erleichterung gefühlt.
»Oh, ab! Und rot!« Kai
legte die Pinzette weg, stand von seinem Platz auf und gab ihr zur Begrüßung
einen Kuss.
»Gefällt es dir?«
»Ist das wichtig?«
»Ja.«
Er packte sie vorsichtig an
ihren Oberarmen, hielt sie ein Stück von sich weg und drehte sie hin und her,
um sie von allen Seiten zu begutachten. Dann runzelte er die Stirn, beugte sich
zu ihr und tat so, als ob er ein einzelnes Haar an eine andere Stelle legen
würde. Mit der Linken umfasste er seinen rechten Ellenbogen, legte die rechte
Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger ans Kinn und knickte theatralisch in der
Hüfte ein. »Perfekt.«
»Idiot.« Judith lachte.
»Nein, im Ernst. Der
Zopf …« Er suchte nach Worten. »Streng und kontrolliert. Ja, das trifft
es.«
»Wirkte er so?«
»Du warst so. Manchmal. Aber
du änderst dich. Das finde ich spannend.« Er umarmte sie. »Aber auch wenn du
anders aussiehst, fühlst du dich noch an wie du.« Er vergrub seine Nase an
ihrer Schulter. »Und du riechst noch wie du – wenn man von dem Haarspray mal
absieht.«
»Ich habe heute Nachmittag
blaugemacht«, sagte sie leise, horchte auf das, was das für sie bedeutete.
»Oh mein Gott! Wer bist du,
und was hast du mit meiner Judith gemacht?«, deklamierte Kai theatralisch, aber
sie zuckte nur mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, ob ich es
gut finde, aber es war alles so … so … so …« Sie suchte nach
einem passenden Wort.
»Popcornig?«
»Bitte?«, fragte sie
irritiert.
»Popcornig«, bekräftigte
Kai. »Es war popcornig. Viel, aufgeplustert, einiges süß, anderes salzig oder
komplett geschmacklos. Außerdem beißt du früher oder später in dieser
Riesentüte auf ein verdammt hartes Korn, bei dem du aufpassen musst, dir nicht
die Zähne zu zerbröseln.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »So?«
»Ja.« Sie nickte. »So.
Popcornig.«
»Was war dein hartes
Maiskorn heute?« Kai ging zum Sofa, ließ sich darauffallen und legte die Füße
auf den Tisch, ohne dabei an die Einzelteile seines Schiffsmodells zu stoßen,
die er zum Trocknen auf der Platte ausgebreitet hatte. Dann streckte er
einladend den Arm aus. Judith blieb stehen.
»Ich bin mein härtestes
Maiskorn.« Sie horchte in sich hinein. Der Schmerz war verschwunden.
***
Die Wohnung war still
und leer. Hatte ich das nach der Trennung von meinem Mann vor einigen Jahren
noch als puren Luxus empfunden, verursachte es mir mittlerweile Unbehagen. Ich
ersparte es mir, nach Henrike zu rufen. Sie war nicht da. Alles war so, wie ich
es vor einigen Stunden verlassen hatte. Ich ging in die Küche, kochte mir einen
Tee und ließ mich aufs Sofa fallen. Die ganze Sache nagte an mir. Nur drei
Minuten die Augen schließen und die Gedanken schweifen lassen. Fakten sortieren.
Eindrücke verarbeiten und auf mich wirken lassen. In diesem halb schlafenden
Dämmerzustand hatte ich oft die besten Eingebungen, wie ich in einer Sache
weiterkommen konnte.
Michaela Rüttner hatte
zugegeben, mit Arno ein Verhältnis gehabt zu haben. Aber war das ein Motiv, um
jemanden umzubringen? Bianca Friese verband vermutlich ebenfalls mehr als
Freundschaft mit dem Toten. Aber warum sollte sie ihn umbringen? Reichten ein
wenig Unfreundlichkeit und
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