Eifler Zorn
ruppiges Benehmen schon aus? Oder war Arno Kobler weiter
gegangen und hatte sie geschlagen? Sie hatte sich den Arm und die Seite
gehalten. Was hatte er mit ihr gemacht? Vielleicht war sie eifersüchtig
geworden. Auf wen? Wo neben der Ehefrau zwei weitere Frauen im Spiel waren, gab
es vielleicht auch noch eine dritte. Und Sandra? Der Klassiker. Die betrogene
Ehefrau. Auch wenn es wirklich zu einfach wäre und sie schon deshalb auf meiner
Liste nicht ganz oben stand. Aber Sandra war Polizistin. Eine erfahrene
Polizistin. Sie wusste, wie Polizisten ticken, wie Untersuchungen durchgeführt
werden, wie die Abläufe sind. Praktizierte sie eine besonders perfide Taktik?
Traute ich ihr das zu? Kannte ich sie denn gut genug, um eine Meinung haben zu
können? Sicher nicht. Ich hatte mich auch nicht darum bemüht, sie näher
kennenzulernen. Überhaupt, das wurde mir gerade klar, hatte ich viele Dinge in
meinem Leben in der letzten Zeit einfach als gegeben angenommen. Schleifen
lassen. Ohne mir Gedanken zu machen, ob sie mir gefielen oder nicht. Aufstehen,
arbeiten, einkaufen, Haushalt. Ein bisschen Hermann, den ich dank Amalie mehr
vermisste als er mich. Ein paar sporadische Treffen mit Thomas. Alltagsroutine
nannte man das wohl. Mal abgesehen von Henrike.
Ich musste eingeschlafen
sein, denn als ich erwachte, war es draußen stockdunkel. In der Wohnung brannte
kein Licht. Ich sah auf die Uhr am Videorecorder. Noch zwei Stunden bis
Mitternacht.
»Henrike?« Stille. Ich
schoss vom Sofa hoch. Verdammt. Wo war das Mädchen? Ich griff zum Telefon.
»Hallo?«, hörte ich Henrikes
Stimme fragen, als das Tuten endlich aufhörte.
»Henrike! Wo bist du denn?
Warum hast du dich nicht …« Gemeldet, wollte ich fragen, aber ihre Stimme
unterbrach mich.
»Aha. Ja. Interessant.«
»Hör mal. Das ist nicht die
Zeit für Witze, Henrike.« Ich wurde sauer.
Gelächter und Kichern kamen
als Antwort, bevor sie weitersprach. »Du bist dir im Klaren darüber, dass ich
dich voll veräppelt habe? Das ist meine Mailbox. Ich kann grad nicht. Wenn du
willst, sag was nach dem Piep.«
Mist. Wütend unterbrach ich
die Verbindung. Zu einer anderen Zeit hätte ich vielleicht über den Scherz
lachen können. Jetzt nicht. Was sollte ich denn nun tun? Überhaupt irgendetwas?
Oder machte ich mich und sie lächerlich, wenn ich sie suchte? Nein. Und wenn
doch, war es mir egal. Wo war die Liste mit den Nummern ihrer Klassenkameraden?
Ich schaltete die
Deckenleuchte in ihrem Zimmer an, sah mich um und verfluchte meine eigene
Schlampigkeit, die mich trotz fester Vorsätze immer noch nicht die Kopie der
Liste mit den Adressen ihrer Klassenkameraden hatte anfertigen lassen. Der
Gedanke an die Verletzung ihrer Privatsphäre, die ich seit dem ersten Tag
unseres Zusammenlebens respektiert hatte, schreckte mich. Aber anders ging es
nicht. Eine Notiz oder ein anderer Hinweis darauf, wo sie sein könnte, würde
ausreichen. Oder die Namensliste. Zwischen den Bücherstapeln signalisierte die
kleine grüne Lampe ihres Laptops Arbeitsbereitschaft. Ich klappte den Bildschirm
hoch und drückte den Schalter. Der Computer erwachte, verlangte nach einem
Passwort. Probeweise versuchte ich ihr Geburtsdatum vorwärts und rückwärts,
dann das ihrer Mutter. Mit Namenskombinationen und ohne. Nach dem fünften Mal
fragte mich der Rechner, ob ich mein Passwort vergessen hätte, und verweigerte
die Zusammenarbeit. »Mist.«
Weiter im Text. In einem
Notizbuch fand ich Zeichnungen von Fledermäusen. Aus der Nähe. Die Köpfe, im
Ganzen, im Flug. Henrike schien sich für die Tiere zu begeistern, hatte die
Zeichnungen sorgfältig beschriftet. Erstaunt bemerkte ich die liebevollen
Details, den gekonnt geführten Strich. Sie hatte die Fledermäuse nicht nur in
ihrem biologischen Zusammenhang gesehen. Jedes dieser Viecher, die mich vom
weißen Untergrund aus anstarrten oder durch die Ecken des Heftes ihre Kreise
zogen, hatte einen Charakter, eine Persönlichkeit. Henrikes großes
Zeichentalent war unbestreitbar. Einige Seiten des Buches waren hastig
herausgerissen worden, so als ob ihr die Ergebnisse nicht gut genug erschienen
waren und deshalb eliminiert werden mussten.
Schulheftstapel, Buchregale,
mehr und mehr arbeitete ich mich durch ihre Sachen. Alle losen Blätter, die ich
fand, stapelte ich auf einer Seite des Schreibtischs, während ich fieberhaft
nachdachte, wie ihre Freundinnen mit Nachnamen hießen, welche davon ihre beste
Freundin war und wo sie wohnten. Halb elf. Es
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