Eifler Zorn
»Du scheinst ja außer großen Worten
doch noch etwas zu können.« Er strafft seine Schultern und wendet sich an den
älteren Jungen, der ihn begleitet und die Ergebnisse der Begutachtung genau wie
die erteilten Tadel und Strafen in eine Kladde einträgt. »Nur fünf Schläge.
Wegen guter Arbeit.«
»Warum
hast du das getan?«, will Ludwig wissen, als sie aus der Halle über den Hof
hinunter in die Waschsäle gehen, um sich vor dem Abendbrot zu waschen.
»Du hast
mir die Schläge erspart.«
Ludwig
lacht. »Die Schläge bekomme ich doch sowieso früher oder später, aber du …
Du hättest die Wurst bekommen.«
»Und dir
etwas abgegeben, glaubst du?«
»Sicher.«
Ludwig stößt Paul mit dem Ellbogen in die Seite und läuft los. »Du bist doch
mein Freund.«
Paul muss
grinsen. »Dein Freund«, flüstert Paul. Er folgt ihm langsam, damit er Zeit hat,
darüber nachzudenken, und holt ihn erst auf der Treppe zum Schlafsaal ein.
***
Der Schmerz breitete
sich, von einer Stelle hinter ihrem Ohr ausgehend, über die rechte Hälfte ihres
Hinterkopfes aus. Es dauerte einen Moment, bis sie sich daran erinnerte, dass
sie diesen Schmerz kannte. Vielleicht schaffte sie es diesmal früh genug, ihm
auszuweichen. Judith schickte die Anfrage zu vermisst gemeldeten Jungen im Raum
Euskirchen und Schleiden an das Polizeiarchiv mit einem Mausklick ab. Wenn sie
Glück hatte, fand sie vielleicht hier einen Anhaltspunkt. Die Daten reichten
bis ins Jahr 1950 zurück. Dann schob sie die Tastatur von sich weg, goss sich
ein Glas Wasser ein und suchte nach einer Tablette. Eine Stunde Schreibarbeit
lag hinter und ein Stapel ausgedruckter Blätter vor ihr. Wie selbstverständlich
hatte Sauerbier ihr die Aufgabe zugeschoben, den Tatortbefundbericht zu
erstellen, und so hatte sie, unter Zuhilfenahme von Inas Angaben und ihren
eigenen Informationen über das Opfer und die Zeugen, und mit den bereits
vorliegenden Erkenntnissen des Notarztes ein Grundgerüst geschaffen, das sie
nach und nach füllen würde, sobald die Techniker ihre Arbeit beendet hatten.
Die routinemäßigen Abläufe hatte sie in der Ausbildung zur Genüge eingepaukt
bekommen. So lange, bis sie die Unterpunkte im Schlaf aufsagen konnte. Ihre
Schlussfolgerungen, die alle subjektiven und objektiven Befunde einschließen
sollten, standen auf einem Extrablatt. Von diesem elenden Schreibkram hatte
nichts in den Detektivgeschichten gestanden, die sie früher verschlungen hatte.
Ob es eine geheime Stelle gab, die solche Informationen bewusst zurückhielt, um
die Jugend des Landes nicht davon abzubringen, den Polizeiberuf zu ergreifen?
Oder den unzähligen Krimilesern nicht die Illusion des abenteuergestählten
Kommissars zu nehmen? Trotz ihrer Kopfschmerzen musste sie grinsen bei der
Vorstellung, in einem Fernsehkrimi auch nur zehn Minuten lang den wahren
Hauptteil ihrer Arbeit vorgeführt zu bekommen. Ein todsicheres
Einschaltquotengift. Sie reckte sich und schielte zu Sauerbier hinüber, der
seit ihrem Streit vor über einer Stunde nur auf dienstliche Ansprache
reagierte.
»Ich fahre jetzt noch mal
zur Stadtverwaltung. Vielleicht hat er die Akten ja noch nicht wieder
weggeräumt«, sagte sie und stand auf. Ihre klare Positionierung in Bezug auf
Ina passte Sauerbier ganz und gar nicht, das war ihr klar. Sie hatte einen
neuen Anlauf unternommen, mit ihm über die Verdachtsmomente gegen Michaela
Rüttner gesprochen, nachdem Ina gegangen war, ohne sich jedoch für ihren
Ausbruch zu entschuldigen, wie er es anscheinend erwartete. Sauerbier hatte mit
stoischer Miene zugehört und sich Notizen gemacht, hin und wieder eine Frage
gestellt und an seinem Schnäuzer gezwirbelt. Jetzt blätterte er in seiner Akte,
notierte mit Kugelschreiber Stichworte auf einem Blatt und sah nur kurz auf.
»Tu das.«
Judith wollte etwas
erwidern, aber ein Blick auf seine Miene ließ sie zurückschrecken. Sie mussten
zusammenarbeiten, ob sie wollten oder nicht. Die Frage war in diesem Fall nur,
wer den ersten Schritt zu einer Versöhnung machen würde. Schwach erinnerte sie
sich an eine Vorlesung in der Uni zum Thema Teamfindung. Die zweite der vier
Phasen, die ein neu zusammengestelltes Team durchlief, nachdem es sich
kennengelernt hatte, war, die Rollen zu verteilen und die Reviere abzustecken.
»Nahkampf-Phase« hatte die Dozentin das Ganze mit einem Augenzwinkern genannt,
und jetzt verstand sie, was damit gemeint war. Platzhirsch und Küken.
Kopfschmerzphase.
»Bei beiden Leichen wurden
die Hände
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