Eifler Zorn
Das Handy
fiel aus meiner Hand und schlidderte ins Dunkel. Das Licht flackerte noch
einmal kurz auf und verlosch.
»Scheiße!« Ich kauerte mich
zusammen, umschlang meine Knie und biss die Zähne zusammen. Ich durfte jetzt
nicht schlappmachen. Ich musste erst das Handy, dann Sandra finden, und danach
sollten wir zusehen, dass wir aus dem Stollen wieder rauskamen, bevor wir hier
drin unterkühlten. »Sandra!« Wo hatte sie gestanden, vorher? Sie war hinter mir
gewesen, ein paar Schritte nur. Was hatte sie kurz vorher gemacht? Die Arme
hochgerissen. Um sich zu schützen? Wenn sie da schon die ersten fallenden
Brocken gespürt hatte, was wäre die normale Reaktion? Flucht nach vorn? Dann
musste sie irgendwo hier sein. Oder hatte sie sich umgedreht und versucht, aus
dem Stollen zu entkommen? Wenn sie es geschafft hatte, wäre bald Hilfe zu
erwarten. Und wenn nicht? Ich musste dieses verdammte Handy finden und wieder
Licht bekommen. Auf allen vieren kroch ich vorwärts, tastete, fühlte über
Steinspitzen und scharfe Kanten der Schieferabbrüche. Konzentrier dich, Ina!
Weiter. Meine Handflächen brannten, und meine Knie bluteten, als ich
schließlich das Handy fand. Das Display leuchtete auf. Ich weinte. Vor Freude.
Vor Erleichterung und vor Erschöpfung. Rollte mich zusammen wie ein Kind. Mir
fielen die Augen zu. Für einen kurzen Moment wollte ich der Versuchung
nachgeben. Schlafen. Das äußere Dunkel gegen ein Inneres eintauschen.
Vergessen. Aufwachen, und alles würde sich geregelt haben. Für mich und für
Sandra. Sandra! Ich schreckte hoch. Ich musste sie finden. Das Handy zwischen
den Zähnen, um die Hände frei zu haben, begann ich zu graben. Räumte
Schieferplatten zur Seite, schob und zerrte, immer in der Angst, eine nächste
Lawine auszulösen, die mich begraben würde – bis ich sie fand. Unter einer
Platte. Das Gesicht bleich und blutig. Zerkratzt. Bis zum Hals verschüttet
unter Steinen, die ich unmöglich allein würde wegräumen können. »Sandra!«,
schrie ich und hörte mich doch nur flüstern.
Fieberhaft suchte ich nach
ihrem Puls, hielt meine Hand unter ihre Nase, um einen Hauch Atem zu spüren.
Nichts. Ich zitterte. Fror. Das Surren in meinen Ohren steigerte sich ins
Unerträgliche, und um mich herum flimmerten bunte Punkte, engten mein Blickfeld
ein. Schwärze, als ob ich durch einen immer schmaler werdenden Tunnel gleiten
würde. Ich schnappte nach Luft, kämpfte gegen die Übelkeit und die Ohnmacht an.
Da schlug sie die Augen auf.
ELF
Der Druck des Handgriffs treibt den Splitter weiter in die Haut unter
seinem Fingernagel. Paul wird ihn entfernen müssen, bevor die Wunde sich
entzündet. Schon gestern Abend im Schein der Lampe hat er es versucht, aber der
kleine Holzspunt ist abgebrochen und nur noch tiefer unter seine Haut
gerutscht. Jetzt bedeckt schwarzer Kohlenstaub seine Hände und macht es schwer,
den Splitter zu sehen. Aber er spürt die Stiche und das Pochen mit jedem
Schritt, den er den schweren Kohlenkarren hinter sich her, die lange Straße
entlangzieht, während es langsam heller wird. Er ächzt. Seine Schultern
schmerzen, ebenso seine Beine. Vor zwei Stunden ist er aufgestanden, mitten in
der Nacht. Hat sich angezogen, sich aus dem Schlafsaal geschlichen, ohne die
anderen zu wecken, und sich auf seinen Weg gemacht. Es ist eine Ehre. Es
bedeutet, dass sie ihm vertrauen. Ihn allein aus dem Haus lassen können, ohne
zu befürchten, dass er wegläuft. Er kommt seinem Ziel immer näher.
Trotz der
Schmerzen und der Anstrengung lächelt er. Ein halbes Jahr ist er hier, in
diesem Heim und in diesem Ort, Gemünd, von dem er außer der Kirche am Sonntag
und der Wegstrecke dorthin noch nicht viel gesehen hat. Es wird Herbst, und
jeden Mittwoch wird einer der Jungen zum Kohlenhändler neben dem Bahnhof
geschickt. Der Karren muss vollgeladen sein, so viele Kohlen wie möglich in
einer Fuhre. Er ist der Jüngste, dem sie es jemals erlaubt haben.
Er hat
eine Menge gelernt in diesen Monaten, in der Werkstatt und auch in dem Saal, in
dem jeden Samstag zuerst die Haare geschnitten und danach die Strafen
verabreicht werden. »Jungfernkranz«, so nennen sie es, und alle müssen zusehen.
Sie strafen für Faulheit, freche Worte und schlechte Arbeit oder das, was sie
dafür halten. Er steht nicht auf ihrer Liste. Ludwig hat sich still verhalten,
seit dem Tag seiner versuchten Flucht, auch wenn er mehr als einmal Schläge
eingesammelt hat und Paul ihm nicht helfen konnte.
Er hat
gelernt. Ideen für
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