Eifler Zorn
einem
Griff das Fenster aufschwang, mich auf den Hocker stellte und prüfte, ob man es
schaffen konnte, durch die Luke zu entkommen. Es gelang mir, wenn auch mühsam,
mich hochzustemmen. Einem fitteren und kleineren Menschen würde es mühelos
gelingen. Ich kletterte wieder hinunter, trat einen Schritt zur Seite und stieß
dabei den Hocker um. Unter meinen Füßen knirschte es. Ich bückte mich und hob
das glänzende Teil auf.
»Henrike war hier und ist
durch dieses Fenster entkommen«, sagte ich und hielt Steffen zum Beweis ihren
Ohrring hin.
FÜNFZEHN
Sie stopfen Ludwig öligen Leinenstoff in den Mund, er ringt um Atem.
Speichel läuft aus seinem rechten Mundwinkel den Hals herab bis unter das Hemd.
Ludwig würgt. Er hebt den Kopf. Paul kann sehen, wie er mit der Zunge schiebt,
zerrt und sich gegen den Widerstand des Knebels stemmt. Ludwig schließt die
Augen. Sie haben ihn fest verschnürt. Ein Tier vor dem Schlachter. Er hat sich
nicht gewehrt. Schweigend nachgegeben, als sie seine Arme weit über die Platte
nach vorne zogen, die Beine spreizten und ihn an allen vier Gelenken mit groben
Seilen festbanden. Löhbach schlägt ihn, wahllos prasseln die Schläge auf
Ludwigs Kopf, seinen Rücken und seinen Hintern nieder. Löhbach hat Paul die
Rute aus der Hand genommen, ihn weggedrängt, mit einem Gesichtsausdruck, der
keinen Zweifel offenließ: Er will sich rächen. Er wartet auf ein Stöhnen, ein
Geräusch von Ludwig. Einen Laut, den Ludwig von sich gibt, als Reaktion auf
das, was er ihm antut. Löhbach muss die Ordnung wiederherstellen. Eine Ordnung,
die er bestimmt, die seinen Regeln gehorcht.
»Jetzt
du, Weber!« Löhbach stößt Paul die Rute wie einen Degen in die Seite.
Dieser
Auftrag ist Strafe, Anerkennung und Probe zugleich. Als Wachdienst hat er
versagt, als Lehrling gehorsam gedient und als Älterer sich noch nicht bewährt.
Sie beobachten ihn genau. Seine Reaktion, die Heftigkeit und Stärke seiner
Schläge, seine Miene. Paul holt tief Luft, umfasst die Rute, spürt die Dornen
an der Innenseite seiner Handflächen und greift fester zu. Sie bohren sich in
sein Fleisch. Zu wenig Schmerz, und doch schießen ihm Tränen in die Augen,
machen ihn blind.
»Los!«
Löhbach packt ihn am Ellenbogen, stößt ihn in Ludwigs Richtung, der ein wenig
den Kopf dreht, als wolle er ihn um Gnade bitten, dann aber wieder mit dem
Gesicht auf die Tischplatte sinkt, die Augen zum Fenster gerichtet.
»Und du
schau hin«, sagt der Direktor, und Paul weiß, er meint Frieda. Sie steht neben
der Tür in ihren Kleidern, die sie so von den anderen unterscheiden. Ihren Rang
deutlich hervorheben und für jeden sichtbar machen, damit keine weiteren
Grenzen überschritten werden. Sie haben sie hergebracht, damit sie zusieht, was
mit einem wie Ludwig geschieht. Paul riecht sie, ihren Geruch nach Sommer, der
in diesem Haus so fremd und falsch ist. Sie sieht Paul an, bittet um Gnade für
den Freund. Paul hebt den Arm mit der Dornenrute. Er schlägt zu. Wieder und
wieder. Strafe, Anerkennung, Probe. Ludwig bäumt sich auf. Löhbach neben ihm
keucht, treibt ihn an. Paul lässt den Arm sinken, aber Ludwigs Körper zuckt
weiter, im Echo der Schläge. Blut läuft über seinen Rücken, er ringt nach Luft.
Liegt reglos.
»Genug.«
Der Direktor ist aufgestanden. »Geht«, sagt er zu den Jungen und treibt sie mit
ausgebreiteten Armen wie eine stumme Herde vor sich aus dem Saal. »Löhbach,
Weber«, sagt er, während er die Türen schließt und dann ebenfalls hinausgeht,
»kümmern Sie sich um ihn.«
»Jawohl.«
Löhbach deutet einen Diener an und wartet, bis sie allein sind.
Paul
gleitet die Rute aus der Hand. Sie fällt zu Boden, zieht rote Schlieren aufs
Parkett.
»Er lebt
noch, Weber«, sagt Löhbach leise. »Der Bastard lebt noch.« Paul sieht ihn
erschrocken an.
»Ich
bringe ihn auf die Krankenstation.« Paul rafft Ludwigs Hemd zusammen, will ihn
über seine Schulter legen.
»Stopp!«,
zischt Löhbach. Paul erstarrt in der Bewegung. »Lass ihn liegen.«
»Aber
jemand muss ihn versorgen.«
Ein
kaltes Lächeln teilt Löhbachs Gesicht. »Jemanden wie dich kann ich gut
gebrauchen. Wenn du tust, was ich dir sage, wird es dir nicht schlecht
ergehen.«
»Was
wollen Sie?«
»Alfons
Cremer verlässt uns zu Lichtmess. Er ist mein Auge und mein Ohr. Mein Gehilfe.
Er wird seine Gesellenprüfung machen dürfen.« Er lacht laut, geht zur Anrichte
neben der Tür und lehnt sich mit dem Ellenbogen darauf.
»Was
wollen Sie?«, wiederholt Paul
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