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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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aufgewacht ist und es ihr
besser geht.« Ich schwieg und knetete meine Finger. »Auch Vorsatz ist in so
einem Fall Notwehr.«
    »Für den Richter nicht.«
Judith klappte ihr Notizbuch zu. »Wir werden sehen, was sie sagt, wenn sie
wieder vernehmungsfähig ist. Ich muss auch noch mit Henrike reden, wenn es ihr
besser geht. Sag mir Bescheid. Vielleicht macht es Sinn, wenn noch jemand dabei
ist. Eine Therapeutin unter Umständen?«
    »Danke. Es ist sicher besser
zu warten.« Ich nickte und spürte, wie das Pochen hinter meiner Stirn langsam
wieder schlimmer wurde und mich die Müdigkeit zu überrollen drohte. Trotzdem
wollte ich noch etwas wissen. »Was ist denn aus der ersten Leiche geworden? Gab
es also doch keinen Zusammenhang zwischen den beiden Toten?«
    »Ja und nein.« Judith hob
ihren Rucksack hoch und verstaute den Notizblock darin. »Wir haben inzwischen
das Alter der Leiche anhand der Holzkiste bestimmen können. Sie stammt ungefähr
vom Anfang des letzten Jahrhunderts – genauer gesagt wurde der Baum, aus dem
die Kiste gebaut wurde, im Jahr 1903 gefällt und vermutlich auch da
verarbeitet. Die Experten meinten, es sei eine eilig zusammengeschusterte Kiste
gewesen, weil sie verschiedene Holzarten gefunden haben. Buche, Fichte und ein
unbehandeltes Eichenbrett. Das war unser Glück. Daran konnte man es schließlich
festmachen.«
    »Was ist mit dem Jungen?«
    »Vermutlich einer der
Zöglinge aus dem Erziehungsheim, das damals in dem Haus beheimatet war. Wir
werden nicht mehr rausfinden können, wer er ist oder warum er in dieser Kiste
gelandet ist. Allerdings habe ich Reichstagsprotokolle aus dem Jahr 1910
gelesen, in denen schlimmste Misshandlungen aufgeführt werden, die in diesem
Erziehungsheim geschehen sind.«
    »Aber die Hände? Seine Hände
waren doch abgetrennt, genau wie die von Arno Kobler.«
    Judith nickte und berichtete
mir von Bianca Friese und dem, was sie dazu gebracht hatte, bei beiden Toten
die Hände abzutrennen. Von der Vergewaltigung und von ihrem Erlebnis mit Arno,
der auch sie misshandelt hatte. Erfahrene Gewalt verändert den Menschen. »Die
fehlenden Finger an den Händen der ersten Leiche waren der Auslöser. Sie
erinnerten sie an ihren Vergewaltiger.« Sie strich gedankenverloren über ihren
Rucksack. »Sie wird eine Therapie machen, um das Geschehene zu verarbeiten, und
ich wünsche ihr eine verständnisvolle Richterin.«
    »Die hat sie verdient, nach
dem, was du erzählst. Es ist trotzdem bedauerlich, dass der Junge beerdigt
wird, ohne seinen Namen zurückzubekommen«, sagte ich.
    Judith richtete sich auf
ihrem Stuhl auf, und für einen Augenblick hatte ich wieder die strebsame Judith
Bleuler vor Augen, der Perfektion und Korrektheit viel bedeuteten und die jeden
ihrer Rechercheerfolge an den Mann bringen wollte.
    »Ich werde noch weiter
nachforschen. Vielleicht gibt es Listen mit den Namen der Jungen, die damals
weggelaufen sind. Möglicherweise hat man sein Verschwinden so vertuscht, und
ich finde doch noch heraus, wer er war.«
    »Was sagt Sauerbier dazu?«
    »Wozu? Dass ich noch weiter
an dem Fall dran bin?« Sie lachte kurz auf. »Nichts. Oder besser, er hat nichts
dagegen.« Sie betrachtete ihre Fingernägel. »Sauerbier hat recht gehabt. Auch
wenn etwas so aussieht, als ob es zusammenhängt, muss es nicht immer so sein.
Oder wie in unserem Fall nicht in Gänze. Verbindungen zu sehen, wo keine sind,
kann einen blind für die Wahrheit machen. Auch wenn sie deutlich spektakulärer
wären als die Realität.«
    »Doch was von dem alten
Recken gelernt, kurz bevor er das Schlachtfeld verlässt?«
    »Ja.« Sie lachte erneut und
sah mich wieder an. »Wer hätte das gedacht.« Sie stand auf. »Noch was. Die
Rechtsmedizin hat eine interessante Information über den Jungen nachgereicht.
Er hatte einen sogenannten Spaltfuß, das ist eine angeborene Fehlbildung, bei
der Zehen fehlen oder verstümmelt sind. Der Rechtsmediziner vermutet nun, dass
seine Finger nicht aufgrund eines Unfalls fehlten, sondern ebenfalls zum
Krankheitsbild gehörten.«
    »Ektrodaktylie«, sagte
Hermann, der die ganze Zeit wortlos ausgeharrt und unserem Gespräch gelauscht
hatte. Erstaunt sahen wir ihn an. »Ektrodaktylie«, wiederholte er langsam. »So
ist der Fachausdruck dafür. Vererbt sich.«
    »Woher weißt du das?«
Hermann überraschte mich immer aufs Neue.
    »Hubert, du erinnerst dich?
Unser ›Reiseberater‹ aus dem Altenheim. Ihm fehlen zwei Finger.«
    »Er war Schreiner, dachte
ich.«
    »Ja, war er

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