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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gailly
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später, als er etwas völlig anderes suchte, ein Dokument für eine verwickelte Erbschaftsgeschichte, fiel ihm ein Foto in die Hände, ein Porträt, an das er sich nicht mehr erinnerte, das seiner sehr jungen Mutter, Debbies Porträt. Ich möchte gleich klarstellen, dass er Suzanne nicht verlassen hat, um Debbie zu heiraten. Die Umstände entließen ihn in die Freiheit.
    Debbie sang ohne Vibrato. Eine neutrale Stimmführung wie bei manchen Saxofonisten der Westküste. Simon entdeckte die Freude daran, allein mit einer Stimme und für diese Stimme zu spielen. Eine Altstimme, beinahe trocken.
    Bewegend in ihrer Weigerung, irgendwelchem Wohlklang Konzessionen zu machen. Und genau das gefällt mir, dachte Simon.
    Und hielt sich sehr zurück. Eine Stimme zu begleiten verlangt so viel Feingefühl. Ihr vorauszueilen oder ihr zu folgen. Ihr zu antworten. Dem Akzent durch eine Frage zuvorzukommen. Er gab sich dieser Zwiesprache hin.
    So sehr, dass er sie ansehen musste. Dabei konnte er nicht umhin, dieses Gesicht zu sehen. Und je länger er es ansah, desto weniger konnte er der von der Zeit verlangsamten Überraschung entgehen, verlangsamt von all der Zeit, die noch einmal durchlaufen werden musste, um klar zu sehen. Er vergaß die Tasten. Er spielte für sie.
    Da ihr die Worte fehlten, improvisierte sie. Für ihn, , der seinerseits Variationen für sie improvisierte, und alles endete für sie beide in einer Art Jubel. Es war 23.15 Uhr. Der Zug rollte Richtung Paris.
    Simon hatte Durst, ihm war heiß. Debbie kam mit zwei Gläsern zurück. Entweder – oder, sagte sie. Debbie bot Simon das Glas an, das sie in ihrer Rechten hielt: Entweder sind Sie ein genialer Nachahmer oder Sie sind Nardis höchstpersönlich: Sind Sie Simon Nardis?
    Ich bin’s gewesen, sagte Simon. In Kopenhagen, sagte Debbie. An allen möglichen Orten, sagte Simon. Auch in New York, sagte Debbie. Ja, auch in New York, sagte Simon, und auch anderswo, an allen möglichen Orten, wie ich schon sagte. Und jetzt hier, sagte Debbie. Nein, sagte Simon, das ist vorbei, heute Abend, das ist nur, jetzt hier, das war nur, um herauszufinden, ob. Ob was?, fragte Debbie. Ob Sie und ich noch leben.
    An sich eine ziemlich banale Antwort. Aber die Art, wie Simon es sagte. Debbie war mehr als hingerissen. Bleiben Sie noch ein bisschen, sagte sie. Begleiten Sie mich noch einmal. Sie hatte noch Lust zu singen, mit ihm, oder vielleicht auch für ihn. Ja, sagte Simon, warum nicht, aber. Aber was?, fragte Debbie. Ich muss erst telefonieren.
    Simon und Debbie, ein schönes Paar, ich weiß, wovon ich rede, ich war oft neidisch, wurden weiter beklatscht, als sie sich zwischen den Tischen hindurch zur Bar bewegten. Wo sie von Bill und Scott erwartet wurden. Debbie stellte ihnen Simon vor.
    Ich hatte Sie nicht erkannt, sagte Bill. Ich auch nicht, sagte Scott. Ich hielt Sie für einen überbegabten Amateur, sagte Bill, und auch noch frech. Ich auch, sagte Scott. Paul kehrte ihnen immer noch den Rücken zu und baggerte das Mädchen an.
    Monsieur Nardis bleibt noch ein bisschen bei uns, sagte Debbie, wir scheinen gut anzukommen als Duo. Bill und Scott wechselten einen Blick. Mit ihnen hatte Debbie nie singen wollen. Sie sind doch hoffentlich nicht in Eile?, fragte sie. Nein, sagte Simon, aber ich muss telefonieren.
    Die Telefonzelle war in der Bar im Erdgeschoss. Die Treppe zwischen Club und Bar hatte an jedem Ende eine Polstertür. Die Musik konnte sich nicht gegenseitig stören. Obwohl es oben wie unten Jazz war.
    Im Keller das Klaviertrio. Im Erdgeschoss die unterschiedlichsten Formationen. Immer mit einem Saxofon. Die müde Schöne war verrückt nach Saxofonisten. Mit klarer Vorliebe für Tenorsaxofonisten.
    Als Simon oben ankam, spielte gerade Sonny Rollins in einem Trio im Village Vanguard, wie die Plattenhülle bezeugte. Wahrscheinlich seine beste Zeit, dachte Simon, obwohl ihm das Telefonat, das er gleich mit Suzanne führen musste, auf der Seele lag.
    Er ging auf den Tresen zu. Die müde Schöne zeigte ihm mit dem Finger, wo die Telefonzelle war. Der erinnert mich an irgendjemanden, dachte sie. Die Tür der Telefonzelle war ebenfalls gepolstert. Simon schloss sie hinter sich. Zog eine Telefonkarte aus dem Portemonnaie. Ein Münztelefon. Auch das noch. Er musste noch mal raus, um einen Geldschein zu wechseln. Die müde Schöne gab ihm eine Hand voll Kleingeld. Sie sehen aus wie Simon Nardis, sagte sie. So?, fragte Simon. Wer ist das?
    Er kehrte zur Zelle zurück. Schloss sich

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