Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gailly
Vom Netzwerk:
auch, was ich höre?, fragte Scott. Bill antwortete nicht. Scott ließ nicht locker. Der Kerl da, er sprach von Simon, der spielte, dem alle zuhörten, außer Paul, der gerade dabei war, ein Mädchen zu verführen. Dieser Kerl hat ein wirklich erstaunliches Imitationstalent.
    Bill hörte zu. Und antwortete Scott: Erstaunlich finde ich vor allem, dass er Sachen von Nardis nachspielen kann, die ich selbst nie hingekriegt habe, Sachen, die mit der Atmung, dem inneren Rhythmus zusammenhängen. Er wollte noch etwas hinzufügen. Vielleicht ist er es ja, sagte Scott.
    Nein, sagte Bill, wenn er es wäre, würde ich ihn wiedererkennen, und außerdem, was hätte er hier zu suchen?
    Simon hatte sich allerdings sehr verändert. In seinem geordneten Leben war er dicker geworden. Sein Haar weiß, soweit noch vorhanden. Das übrige war ausgefallen, und er trug jetzt eine Brille. Mit dem jungen, innovativen Pianisten, der drei, vier Mal von amerikanischen Clubs eingeladen worden war, hatte er nicht mehr viel gemein.
    Nachdem er sein Thema gut eingeführt hatte, improvisierte Simon, ganz mit sich allein und die Nase tief über den Tasten. Seine Hände zitterten nicht mehr. Nach und nach ergriffen sie Besitz von der gesamten Klaviatur, und sein Stil – ob das nun von Vorteil war, vermag ich nicht zu beurteilen – hatte an Einfachheit und Klarheit gewonnen.
    Da ist die Chefin, sagte Bill. Auftritt der Liebe. Man ist nie vor ihr sicher. Simon hatte noch nie eine Singstimme begleitet. Er habe es sofort wunderbar gefunden, erzählte er mir. Nicht nur, weil es Debbie war. Nein, diese Kombination von Klavier und Gesang. Debbie war früher Sängerin gewesen, Jazzsängerin.
    Sie kannte Simon nicht. Oder vielmehr doch, so wie ihn viele zufällig, eines Abends, gesehen und gehört hatten. Debbie hatte ihn nur einmal gesehen. Als ganz junges Mädchen, sie studierte damals Musik. Während der Ferien reiste sie kreuz und quer durch Europa.
    Eines Abends hörte und sah sie ihn in einem Club in Kopenhagen. Zwei oder drei Stunden im selben Raum mit Simon, selbst wenn sich ihre Blicke begegnet sein sollten, das bietet dem Gedächtnis wenig Anhalt, selbst wenn Stil, Klang, Anschlag und Phrasierung hinzukommen, bietet es dem Gedächtnis nicht viel. Und dennoch kann es anscheinend genügen. Nein, im Ernst, sie konnte ihn nicht wiedererkennen.
    Und doch, sagte sie. Debbie sagte mir, sie habe auf eine Silhouette reagiert. Eine gewisse Art, sich über die Tasten zu krümmen. Wie Glenn Gould, wenn du weißt, was ich meine. Ich wusste es. Ich hatte Simon spielen sehen. Er spielte auf meinem Steinway, wenn er kam. Ich kannte die Art, wie er am Klavier hockte.
    Wollt ihr ihm nicht helfen?, fragte Debbie Scott und Paul. Letzterer hörte sie nicht, er unterhielt sich ja mit einem Mädchen. Fast ohne Pause hatte Simon mit einer simplen Modulation eine sehr hübsche Ballade angeschlossen, You have changed.
    Nein, sagte Scott, Pause ist Pause. Jeder hatte sein Bier und seinen Schnaps vor sich stehen. Bill Bourbon. Scott Whisky. Paul Cola. Bill schmollte. Simons Spiel machte ihn krank. Ich dachte, du hättest gespielt, sagte Debbie zu ihm. Es schien sie zu amüsieren, dass ein Gast sich während der Pause ans Piano gesetzt hatte. Irgendwie nett, aber. Der spielt zu gut, dachte sie, das ist nicht normal, irgendwas ist los.
    Und außerdem liebte Debbie diese Ballade, die Simon so schön spielte. Sie hatte sie früher gesungen. Sie hatte lange nicht mehr gesungen. Also ich geh hin, sagte sie zu Bill und Scott, ich helfe ihm, ich hab Lust zu singen. Sie nahm einen Schluck aus Scotts Whiskyglas: Darf ich?
    Immer noch mit sich allein und die Nase über den Tasten, sah Simon sie nicht kommen. Sie nahm das Mikro vom Ständer. All diese Unruhe ringsum: Ja, schon gut, sagte er, ich hab verstanden, ich gehe, sagte er ohne sie anzusehen, ohne zu spielen aufzuhören, ohne den freien Lauf seiner Phrasierung zu unterbrechen. Debbie beugte sich vor.
    Das Mikro dicht am Mund, schwang sie sich in die Melodie ein und sang dicht neben ihm: Sie haben sich nicht verändert. Simon hob die Nase von den Tasten, sah Debbie an und antwortete im Weiterspielen: Sie auch nicht. Simon hatte sie nie zuvor gesehen.
    Jahre später. Er war mit Debbie verheiratet. Da erzählte mir Simon, wie er völlig zufällig begriffen habe, warum er Debbie an jenem Abend sozusagen wiedererkannt und vor allem, warum er diese Frau sofort angebetet habe. So erklären sich viele leidenschaftliche Lieben.
    Jahre

Weitere Kostenlose Bücher