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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gailly
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unwillkürlich eine ganz eigene Phrasierung.
    Alle drei waren wirklich sehr gut. Scott, der über das Instrument in seinen Armen gebeugte Bassist, beeindruckte Simon. Sein Spiel war sehr melodisch und vor allem sehr behände, er konnte fast so rasch spielen wie ein Gitarrist, vielleicht nicht immer genau, aber erfindungsreich und sehr inspiriert, mit instinktivem Gehör.
    Während er sein Glas leer trank, dachte Simon: Die jungen Musiker werden immer besser und immer jünger. Kaum hatte er es gedacht, sank seine Stimmung wieder auf den Nullpunkt. Die Musik braucht mich nicht mehr, dachte er, die Jungen machen ihre Sache gut, und ich brauche die Musik nicht mehr.
    Plötzlich sei ihm, so erzählte er mir, Folgendes klar geworden, und das tat weh: Ich liebe den Jazz nicht mehr, nicht mehr so wie früher, vielleicht gar nicht mehr, jedenfalls nicht so, wie man ihn lieben muss, um sein Leben mit ihm zu verbringen.
    Und genau darum handelt es sich, um mein Leben. Wonach suchte ich, als ich hierher kam? Was wollte ich beweisen, als ich das Piano kaperte? Die Frage kann ich beantworten, sagte er sich. Dann antworte. Ich werde antworten, sagte er sich. Nur zu, ich warte. Ja doch, ich tu’s ja schon. Ich wollte wissen, ob mein Leben vorbei war. Und? Ich wollte glauben, dass es das nicht wäre. Und weiter? Jetzt weiß ich, dass es vorbei ist. Im Grunde hatte ich keine Lust auf Jazz und noch weniger Lust auf Musik, ich hatte nur Lust zu leben, eine erbärmliche, kleine Lust zu leben.
    Während Simon sich so zerfleischte, unternahm Debbie oben am Tresen der Bar das Nötige, um ihm ein Zimmer im Hotel d’Angleterre zu reservieren.
    Die müde Schöne hatte die Nummer nicht im Kopf. Sie gab Debbie das Telefonbuch mitsamt dem daraufstehenden Apparat. Rollins spielte immer noch in seinem Trio, Softly As a Morning Sunrise, jetzt lag die andere Seite oben.
    Sie hörte, wie Debbie im Hotel anrief. Debbie bat sie, Rollins ein wenig leiser zu stellen. Dann hielt sie sich ein Ohr zu und bestellte für Simon ein Zimmer. Auf welchen Namen? Wie bitte? Sprechen Sie lauter, ich verstehe Sie nicht. Simon Nardis, schrie Debbie.
    Die müde Schöne hörte Simons Namen. Dacht ich’s mir doch, sagte sie sich. Ist er’s?, fragte sie Debbie, nachdem diese aufgelegt hatte. Ja, sagte Debbie. Und gab ihr Telefonbuch samt Apparat zurück.
    Und weißt du was?, sagte sie. Die andere ahnte es schon. Ich werde mit ihm singen, sagte Debbie, er wird mich begleiten. Ja, jetzt gleich. Und außerdem gefällt er mir. Und ich glaube, ich gefalle ihm auch. Und ansonsten ist alles in Ordnung? Brauchst du irgendwas? Nein, sagte die Müde. Sie setzte wieder ihr Gesicht einer friedfertigen ehemaligen Schönheit auf, streckte den Arm aus und drehte Rollins lauter.

8.
    Ihr Platz war besetzt. Ein junger Mann saß Simon gegenüber. Debbie wartete hinter ihm. Der junge Mann, vielleicht achtzehn oder zwanzig Jahre alt, konnte sie nicht sehen. Dass jemand hinter ihm war, wurde ihm erst bewusst, als Simon zu ihr aufblickte. In Simons Augen muss Liebe gestanden haben. Der Junge wandte sich um: Pardon, sagte er, ich wollte nicht stören. Er bedankte sich bei Simon. Und zog sich zurück.
    Ein Bewunderer?, fragte Debbie. Nein, sagte Simon, er hatte nur ein paar Fragen. Er spiele auch ein wenig Klavier, sagte er. Es ließ sich gut an. Er wollte wissen, ob man Jazz lernen könne. Ja, habe ich gesagt, wie alles andere auch. Dann wollte er wissen, ob es eine Schule gebe. Nein, keine Schule. Ob ich unterrichte? Nein, kein Unterricht. Was denn dann? Darauf ich: Zuhören, einfach zuhören, den Großen zuhören, alles von ihnen übernehmen, was sich übernehmen lässt, und dann sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen. Die Mittelmäßigen sortieren sich von selbst aus.
    Debbie: Glauben Sie, er hat Sie verstanden? Ich nehm’s an, sagte Simon, und wenn nicht, verschwendet er eben seine Zeit wie alle anderen Leute auch, dafür sind wir doch hier, genau wie Sie und ich: Was mache ich denn hier anderes mit Ihnen, und Sie mit mir?
    Charmant, sagte Debbie, so danken Sie es mir also, dass ich Ihnen ein Zimmer reserviert habe, in einem Hotel, das nicht allzu weit entfernt ist?
    Simon sagte: Ich hab’s mir überlegt, ich schlafe lieber bei Ihnen. Oder eher nein, ich will nirgends schlafen. Und überhaupt, ich hab keine Lust zu schlafen. So ist das.
    Er ist betrunken, dachte Debbie. Das war er tatsächlich. Und zwar ziemlich. Er hatte gar nicht so viel getrunken, aber schon lange nicht mehr so viel.

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