Ein abenteuerliches Herz
gegessen, und ich musste mich bei der ersten Schnecke schon sehr überwinden – es wurden dann aber immerhin drei Dutzend, die von vielen Gläsern Rotwein begleitet waren. Jünger, der kräftig mithielt, taute immer mehr auf und erzählte Pariser und Berliner Geschichten.
Frau Blersch sprach Ernst Jünger unentwegt als »Chefchen« an, das klang ziemlich exaltiert. Albertus, dem ich das erzählte, lachte. Auch er nannte ihn »Chef«, und bald übernahm ich ebenfalls diese Anrede. Ernst Jünger hatte das gern. Wie er auch die Bezeichnung »Secretarius« für das, was vor mir Albert von Schirnding und nun ich in Wilflingen tat, jener eines schnöden Sekretärs vorzog – »Secretarius« war der »Geheimschreiber«.
III. Aus dem Sekretariat
Meine konkrete Arbeit als Secretarius war wenig spektakulär. Allerdings hatten sich, seit Albertus nicht mehr im Hause gewesen war, Stapel von Briefen angesammelt, die nun zu ordnen und abzulegen waren. Jünger war nicht nur ein großer Briefe-Schreiber, der nahezu alle Briefe, die ins Haus flatterten, beantwortete. Er war auch ein großer Briefe-Sammler – davon zeugt noch seine Erzählung »Das Haus der Briefe«, die zu den Stücken zu »Heliopolis« gehört und 1951 als bibliophiler Druck erschienen ist. Kein Brief, und mochte er noch so unbedeutend erscheinen, wurde weggeworfen – für jeden fand sich eine Mappe. Kein Ordner! Denn gelocht wurden die Briefe nicht – sie waren unverletzlich. Nur reine Geschäftspost – Steuerangelegenheiten, Verkehr mit Ämtern usw. – durfte gelocht in Leitzordnern abgelegt werden.
Das Ordnungssystem war einfach: alphabetisch. Prominenz wurde nicht separat abgelegt – Hitler lag friedlich zwischen unbekannten Hists – Hits . Auch ein einzelner Brief erhielt sein Papiermäppchen, auf dem der Name des Korrespondenten notiert war. Viele solcher Papiermäppchen wurden in einzelnen Jurismappen gesammelt. Umfangreiche Korrespondenzen füllten allein ganze Jurismappen. Als ich im April 1961 nach Wilflingen kam, waren anderthalb Schränke voll, als ich ein paar Jahre später zum letzten Male meines Ämtchens waltete, war ein ganzes Zimmer mit neuen Schränken auf Zuwachs eingerichtet, bei Jüngers Tod muss es überfüllt gewesen sein.
Hin und wieder, wenn Jünger einen Namen in der Zeitung gelesen oder in anderem Zusammenhang vernommen hatte, fragte er: Haben wir den nicht in der Korrespondenz? Und dann wurde gesucht. Das war lästig. Also legte ich mir mit der Zeit handschriftlich ein alphabetisches Register aller Korrespondenten an. Als das fertig war, tippte ich den Register-Katalog ab. Die Namen der Korrespondenten trug ich so ein, dass zwischen ihnen genügend Platz für Nachträge blieb. Ich ließ den Katalog, dick wie ein mittleres Telefonbuch, binden und schenkte ihn Jünger zu Weihnachten 1961.
Als Jochen Meyer, ein alter Studienfreund und damals Leiter der Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, in den 1990er Jahren den Vorlass Ernst Jüngers ordnete, rief er mich aufgeregt an: ob ich noch eine Zweitschrift des Katalogs habe – der handschriftlich fortgeführte Katalog, inzwischen wichtig wie das Terminbuch eines Advokaten, sei verschwunden, eine Katastrophe! Er fand sich dann doch wieder an. – Damals auch erzählte mir Jochen Meyer verwundert, wie sorgfältig jemand die kleinen Notizbücher Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg geordnet habe – vier dieser Duodezformate lagen jeweils in einer Jurismappe, getrennt durch kleine Stege aus Pappe, die von Hand eingeklebt worden waren. Ich wiederum wunderte mich, dass meine Bastelei von 1961, die ich längst vergessen hatte, so lange gehalten hat.
Interessanter als solch ordnende und organisierende Arbeit waren die Korrespondenz selbst – ihre Lektüre: Jünger hatte mir ausdrücklich erlaubt, die alten Briefwechsel einzusehen (als Erstes nahm ich mir die Briefe Gottfried Benns vor) – und die Beantwortung von Briefen, die Jünger mir überließ, vor allem bei jüngeren Briefschreibern. Und das nicht nur in den jeweils wenigen Wochen, die ich in Wilflingen war, sondern auch von Göttingen aus, wo ich studierte. Mit der Zeit entstand so in Göttingen »eine kleine Außenstelle meines Postbetriebs«, wie Jünger mir mal schrieb. Er schickte mir die zu beantwortenden Briefe und machte dazu seine Anmerkungen – ein Beispiel vom 8. November 1961: »Vor allem bitte ich Sie, R. Z. meinen herzlichen Dank zu sagen für die verschiedenen Lanzen, die er für mich
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