Ein abenteuerliches Herz
Jünger Besuche machte, bei denen ich ihn fast immer begleitete, meist in Riedlingen mit einem Abstecher bei der Hausärztin Margret Blersch, auch in Tübingen bei Walter Schulz, dem Philosophieprofessor.
IV. Wald- und Wiesengänge
Winters oder sommers, und nicht nur bei gutem Wetter, ging es nach dem Mittagessen hinaus in Feld und Wald. Und im Oktober sammelten wir, zum Abschluss unserer Gänge, auf einer großen Wiese die dort reichlich gedeckten weißen Champignons, und von denen die kleinen, noch geschlossenen: »Wir nehmen nur die jungfräulichen, die noch ihr Hymen haben.«
Auf diesen langen Gängen haben wir viel miteinander geredet, meist ausgehend vom Alltäglichen; wir sprachen über die Post, daran anknüpfend über die Personen, die da geschrieben hatten, sprachen über Politik, was wir mittags in der Zeitung gelesen hatten, und manchmal auch über einiges, das der Secretarius in seinem Kopf zu sekretieren hatte. Und hin und wieder erzählte er von seinen Schreibplänen, und das Gespräch geriet zum Monolog.
So, als Beispiel, auf einem Gang am 20. Oktober 1962: »(…) über unsere Champignon-Wiese, auf der immer noch die eiserne Falle – diesmal mit drei Tauben für Habichte und Bussarde aufgestellt – stand, zurück. Dabei [im Zusammenhang der Kuba-Krise] über Notzeiten; wir [i. e. meine Generation] haben dergleichen nicht erlebt. Meine Generation wäre darum anfälliger als die vor uns liegende, die etwa 1920 geboren wurde, die ganze intellektuelle Linke käme aus dieser Generation. – Der Krieg habe nichts Ritterliches mehr an sich. Man drücke auf ein Knöpfchen, dann sei es um den Kampf bereits geschehen. Doch noch im Zweiten Weltkrieg habe es mehr Ritterlichkeit gegeben als im Ersten Weltkrieg.
Der Chef plant nach der Arbeit über den Baum, die jetzt erscheint, eine über die Steine. Genealogie der Steine, Herkunft aus dem vegetativen Bereich bei Kalk etwa; Lava, Granit; Gerölle als Steinansammlungen, riesige Ansammlungen von Steinen in Afrika, am Sinai. Doch bekomme alles weniger den Charakter des Geologischen als den der Metaphysik ex cathedra naturae naturans. Das sei viel eindrucksvoller als die praktische oder die theoretische Seite per se. Grundsätzlich meinte der Chef, man müsse sich metaphysisch ausrichten, wenn man bestehen wolle. Die Evidenz zeige, dass alles so vergänglich sei und dennoch so unendlich lang daure, dass das menschliche Leben in diesen Zeiträumen sekundenartig sei. Man müsse sein Leben in die umfassenderen Zeiträume stellen, es darin auch sehen und seinen Standort dort erkennen. Alles andere sei irrelevant. Aber tatsächlich richten die meisten sich ein im Staate, vielleicht auch im europäischen Staatenbund, im seltensten Falle im Erdenstaat. Doch das seien untergeordnete, künstliche, zwar durch die Natur manchmal bedingte, Schöpfungen des Menschen, darin und als solche beschränkt. Die Ausrichtung des Menschen nach dem und im Jenseitigen werde von den Kirchen besorgt; sie institutionalisieren und bauen ihre eigene, noch mehr beschränkte Ordnung, als es die soziologisch-politische Schichtung sei und verlange. Darin liege auch der Tod der religio als katalysierende Kraft der Zufriedenheit, des Mitleids: der Menschlichkeit. Menschlichkeit zeige sich eher im unbegrenzten als im abgegrenzten Bereich.«
Bei unseren Waldgängen kamen wir immer mal wieder auf Jüngers Großessay »Der Waldgang« zu sprechen und phantasierten uns Gelegenheiten zusammen, bei denen wir als outlaws fliehen mussten und uns als echte Waldgänger in diese Wälder zurückziehen würden, in Höhlen und Dickichte, die wir vorab ausgebaut und zur Sicherheit mit Lebensmitteln, Wein und natürlich Lektüre munitioniert hätten – so kamen wir auch auf Bücher zu sprechen, die ihm lebensnotwendig waren: die Bibel, »Tausendundeine Nacht«, das »Œil de bœuf« , der geliebte »Tristram Shandy«, Casanovas »Histoire de ma vie«, die Memoiren von Saint-Simon, Aphorismen von Rivarol und Chamfort, Bücher von Léon Bloy … Jünger war sein Leben lang ein großer Leser, schon die Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg belegen das, noch mehr die regelmäßigen Notate zu seinen Lektüren in dem umfangreichen Tagebuchwerk der »Strahlungen« und von »Siebzig verweht«.
Im Gedächtnis geblieben ist mir aus Gesprächen von diesen Gängen aber auch Gröberes, einiges, was er aus seiner Berliner Zeit erzählte, darunter zum Teil üble Scherze, Störungen von Veranstaltungen politischer
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