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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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zu stemmen. Sie blickt über die Schulter in die Dunkelheit, sieht aber weder den Mann mit dem Messer noch das Blitzen der Klinge.
    Vielleicht ist er fort. Vielleicht scheut er das Licht auf dem Hof. Vielleicht wollte er nicht gesehen werden und ist verschwunden. Dann wäre sie in Sicherheit. Alles wäre okay, wenn er einfach verschwunden wäre. Jemand könnte sich ihrer annehmen, könnte dafür sorgen, dass die Schmerzen aufhören. Und für sie wäre wieder alles okay.
    Sie sieht sich auf dem Hof um. Er ist ungefähr zehn Meter breit, fünfzehn Meter lang und vollständig betoniert bis auf einen runden Blumengarten in der Mitte und halbkreisförmige Blumenbeete an den Kanten, wo der Beton an
die vier Gebäude grenzt, die den Apartmentkomplex bilden. Vier Bänke rahmen den Blumengarten in der Mitte ein. Die Gebäude sind fünf Stockwerke hoch. Kat hat keine Ahnung, wie viele Wohnungen sich in dem Komplex befinden, aber sie weiß, dass ungefähr die Hälfte von ihnen Ausblick auf den Hof haben, und sie sieht, dass hinter einigen Fenstern Licht brennt. So viel Licht in so vielen Wohnungen hat sie noch nie brennen sehen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. In mindestens einem Dutzend der Wohnzimmer brennt Licht. Es sind bestimmt dreißig oder mehr Menschen, die hinter erleuchteten oder dunklen Fenstern stehen. Sie erkennt Gesichter, die zu ihr hinunterblicken.
    Bei einigen kann sie das Weiß der Augäpfel sehen.
    »Hilfe«, sagt sie. »So hilf mir doch jemand.«
    Sie sieht den Menschen oben in ihren Wohnungen ins Gesicht, und die Menschen sehen auf sie hinab. Manche von ihnen erkennt sie: Larry und Diane Myers in ihrer Wohnung im zweiten Stock. Thomas Marlowe, der ihr einmal geholfen hat, ihre Einkäufe ins Haus zu tragen. Und Anne Adams, von der sie ständig über Pastasoßen ausgefragt wird, weil Kat doch Italienerin ist. Da sind noch Dutzende mehr. Sie sieht, wie sie alle aus ihren Wohnzimmerfenstern auf sie hinabsehen, als sei sie nichts als ein Bild auf einem Fernsehschirm. Und wie viele sieht sie gar nicht erst? Wie viele mehr stehen da oben und starren aus den hinteren Ecken abgedunkelter Wohnzimmer hervor, unsichtbar für sie?
    »Hilfe«, sagt sie noch einmal.
    Sie hört Schritte hinter sich und blickt über ihre Schulter, und was ihr als Erstes ins Auge fällt, ist ein Riss in ihrem weißen Mantel – nein, kein Riss, ein Schnitt -, und daraus rinnt eine burgunderfarbene Flüssigkeit, die so riecht, wie Metall schmeckt. Und dann sieht sie über ihre Schulter hinweg
und erblickt ihn. Oh, Gott. Verzeih mir, Gott, ich wollte deinen Namen nicht missbrauchen; ich habe nur so eine verdammte Angst und so schlimme Schmerzen. Und da ist er wieder. Oh, Gott, er ist nicht verschwunden – er ist nicht verschwunden. Oh, mein Gott, bitte lass das nicht wahr sein. Der Mann mit dem rostfleckigen Messer tritt aus dem Dunkel. Er ist über eins achtzig groß und wiegt bestimmt mehr als neunzig Kilo und seine Augen blitzen heimtückisch und in seiner rechten Hand hält er das große Küchenmesser und seine braunen Bauarbeiterstiefel sind mit Blut befleckt. Mit ihrem Blut.
    Er kommt auf sie zu.
    Kat fängt an zu weinen.
    »Oh, Gott, nein. Nein«, sagt sie. »Bitte – bitte. Bitte«, sagt sie.
    Aber er geht weiter. Der Mann kommt weiter auf sie zu, und niemand hält ihn auf. Sie alle starren nur herab aus ihren Wohnzimmern. Sie blicken einfach nur auf sie hinunter mit ihren weit aufgerissenen weißen Augen.
    Dann ist er da, der Mann mit dem Messer, und er greift ihr ins Haar und packt ein ganzes Büschel. Sie riecht seinen Schweiß. Sie erkennt die Mitesser auf seiner Nase. Sie sieht die Adern, die sich an seinem Hals aufpumpen, und sie kann in seinen Augen die Äderchen sehen, wie Rinnsale von Lava am Hang eines tätigen Vulkans.
    Er wirft sie zu Boden.

14
    Thomas lässt die Jalousie herunter, um den Terror unten nicht mehr mit ansehen zu müssen. Er hat zwar nicht alles erkennen können, was sich dort abspielte, aber genug gesehen, um zu wissen, dass er noch mehr nicht ertragen könnte.
    »Ich kann da nicht zusehen«, sagt er.
    »Ich weiß, was du meinst.« Eine Pause. »Sollten wir nicht die Polizei rufen?«
    Thomas überlegt einen Moment, und anfangs scheint es ihm das Richtige zu sein, aber dann fallen ihm all die Gesichter ein, die er gesehen hat – die aus Wohn- und Schlafzimmerfenstern hinunter in den Hof starren: Dutzende von Gesichtern, Dutzende -, und er denkt an die hiesige Polizei, daran, dass man ihn

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