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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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stundenlang danach befragen wird, was er gesehen hat, ihn vielleicht auffordern wird, aufs Revier mitzukommen, um sich ein Buch mit Fotos anzuschauen. Und er denkt an die Waffe, die er von seinem Großvater hat.
    »Ich bin sicher, das hat schon jemand getan«, sagt er schließlich. »Und wir wollen doch nicht mit überflüssigen Anrufen die Leitungen blockieren.«
    Nach kurzer Überlegung nickt Christopher.
    »Stimmt wohl.«
    »Armes Mädchen. Stell dir vor, es wäre Samantha.« Er hält inne, wie um darüber nachzudenken. »Wir sollten hier wegziehen. Verkommt immer mehr, diese Gegend.«

    Christopher wendet den Blick von ihm ab, gedankenverloren, wie es scheint. Er beißt sich auf die Lippe. Senkt den Blick und kratzt den Hautlappen zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. Schließlich hebt er den Kopf.
    »Hast du wirklich eine Tochter?«
    »Was?«
    Thomas spürt, dass ihm Zorn ins Gesicht steigt, heiß und kribbelnd, aber falls Christopher es bemerkt haben sollte, lässt er sich nichts anmerken – er blickt sein Gegenüber unverwandt an.
    »Hast du tatsächlich eine Tochter?«, fragt er noch einmal. »Ich seh überall in der Wohnung die Fotos. Und ich kenne deine Geschichten. Davon hast du eine Menge auf Lager: Obwohl du gar nicht religiös bist, wird Samantha getauft, weil deine Frau darauf bestanden hat. Thanksgiving mit den Schwiegereltern, all das … aber … ich weiß nicht. Vielleicht passen diese Geschichten nicht recht zusammen, verstehst du? Vielleicht … ich hab nur …« Und damit – jetzt, da es heraus ist – bricht Christopher den Augenkontakt ab. »Ich weiß nicht. Tut mir leid, dass ich was gesagt habe.«
    Thomas weiß nicht, wie er reagieren soll. Er sieht Christopher an und blickt wieder weg. Dann geht er zum Couchtisch, nimmt das Bild in die Hand, starrt – nach seinem Gefühl – eine sehr lange Zeit darauf und stellt es wieder ab.
    »Glaubt sonst noch jemand, dass ich lüge?«, fragt er schließlich. »Doug? Larry vielleicht?«
    Christopher zuckt die Achseln.
    »Ich weiß nicht. Ich glaub aber nicht. Niemand hat was gesagt.«
    Thomas nimmt das Foto wieder vom Couchtisch und sieht es noch etwas länger an. Irgendwie hat er das Gefühl, sich für immer von jemandem zu verabschieden. Es ist dasselbe
Gefühl, das er hatte, als seine Mutter fortging und ihn auf dem Rasen neben seiner Großmutter stehend zurückließ.
    »Wink ihr zum Abschied«, sagte Großmutter. Und das tat er. Er winkte ihr zum Abschied.
    »Ich habe den ersten Bilderrahmen, diesen Bilderrahmen hier«, sagt er und hält ihn in die Höhe, »vor drei Jahren gekauft. Es war bereits ein Foto drin – das Bild einer Frau und eines kleinen Mädchens, die vor der Golden Gate Bridge stehen -, damit man sich vorstellen kann, wie das eigene Bild im Rahmen aussehen wird, wenn man ihn bei sich zu Hause aufstellt. Aber als ich den Rahmen hier hatte, gab es kein Bild, das ich hätte einrahmen können, also hab ich ihn auf meinen Couchtisch gestellt und das Bild einfach dringelassen. Und manchmal, weißt du, wenn nichts im Fernsehen war und ich auch keine Lust hatte zu lesen, dann habe ich, ich weiß auch nicht, einfach das Bild betrachtet und mich gefragt, wer diese Frau sein mochte. Ist sie nett? Lacht sie unbeschwert über alberne Witze? Ist das kleine Mädchen tatsächlich ihre Tochter? Hat die Kleine gute Noten in Mathematik? Vielleicht hätte sie auch meine Tochter sein können.« Thomas unterbricht sich und betrachtet das Bild noch einen Augenblick länger, bevor er fortfährt. »Ungefähr sechs Monate nachdem ich das erste Foto gekauft hatte, fand ich noch ein Bild von derselben Frau. Und zwar in einer Zeitschrift, für eine Zigarettenreklame. Sie war ganz allein auf dem Bild. Ich hab das Magazin gekauft und nach Hause mitgenommen. Die Anzeige habe ich ausgeschnitten und eingerahmt. Danach hab ich dann wohl angefangen, Jagd auf sie zu machen, auf Fotos von der Frau und dem Mädchen. Jedes Mal wenn ich aus dem Haus ging, hoffte ich, wieder eins zu finden, und wenn ich erfolgreich war, du lieber Gott …« Er lachte leise und betrübt.
»Da kam es mir vor, als sei ich einem alten Freund über den Weg gelaufen.« Er stellt das Bild zurück, lässt sich auf die Couch fallen und sieht hinauf zu Christopher. »Ziemlich erbärmlich, was?«
    »Ich finde nicht, dass es erbärmlich ist«, sagt Christopher.
    »Ich aber.« Er kratzt sich die Wange. »Ich wünschte, ich hätte es geschafft, abzudrücken, bevor du vorbeigekommen bist.

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