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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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hinunter, bleibt aber stehen und schaut durch die Scheibe, schaut auf die anderen Leute, die an ihren Fenstern stehen.
    Vielleicht, überlegt er, sollte er die Polizei rufen. Er ist sicher, dass jemand es bereits getan hat, aber vielleicht sollte er es trotzdem tun, nur für alle Fälle. Er geht an den Beistelltisch mit dem Telefon, nimmt den Hörer auf und hält ihn ans Ohr.
    »Patrick!«
    Er wirft einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es ist erst halb fünf.
    »Bin gleich bei dir, Mom«, sagt er und legt den Hörer zurück auf die Gabel. Dann fragt er sich, warum sie ihn eine halbe Stunde früher ruft.
    Er geht hinaus auf den Flur, um es herauszufinden.
     
     
    Patrick rollt die Maschine in die Ecke.
    »Niemand hat je davon gesprochen, dass es wehtun kann«, sagt er.
    »Ich lüge aber nicht.«
    »Das habe ich auch nicht behauptet. Gleich als Erstes morgen früh rede ich mit Erin. Du weißt, dass es nur noch
schlimmer wird, wenn wir uns nicht an die regelmäßigen Zeiten halten.«
    »Ich weiß, aber mein Arm hat wehgetan.«
    »Versuch ein bisschen zu schlafen, Mom.«
    Er geht zur Tür und legt die Hand auf den Lichtschalter. Dann hält er inne und dreht sich zu seiner Mutter um. Mom erwidert seinen Blick durch die fleischigen Falten um ihre Augen – sie sind wie kleine Lampen, die man zwischen fast schon geschlossenen Vorhängen sieht – und runzelt die Stirn. Vielleicht wegen seines Gesichtsausdrucks, überlegt er.
    »Was ist los, Pat?«
    »Ich heiße Patrick, Mom. Niemand nennt mich mehr Pat.«
    »Nicht einmal deine Mutter?«
    Patrick schüttelt den Kopf, aber bereut es, als er merkt, dass er wohl ihre Gefühle verletzt hat.
    »Also, was ist los, Patrick?«, fragt sie schließlich.
    Er zögert und überlegt, wie er es seiner Mutter beibringen soll, aber als ihm klarwird, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als ihr zu sagen, was er ihr zu sagen hat, spricht er es ohne Umschweife aus. »Ich bin eingezogen worden. Morgen früh soll ich mich zur Musterung melden.«
    Mom nickt, zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hat, sagt aber lange Zeit keinen Ton.
    Schließlich fragt sie: »Seit wann weißt du es schon?«
    »Das ist doch egal.«
    »Wenn du dich morgen melden sollst, musst du es schon eine ganze Weile wissen.«
    »Etwas über eine Woche.«
    »Deine Mutter ist ein Pflegefall. Vielleicht stellen sie dich zurück.«

    »Daran hab ich auch schon gedacht«, sagt er und bemerkt dann, dass er seine Aufmerksamkeit einer Spinnwebe in der Ecke zugewendet hat.
    »Aber?«, fragt Mom. Sie wartet auf das, was kommen muss.
    »Ich habe nichts gesagt.«
    »Das ist mir klar, aber du hast dabei doch was gedacht?«
    Patrick öffnet den Mund, um zu sprechen, aber schließt ihn wieder.
    »Ich kann es nicht sagen.«
    »Du möchtest gehen.«
    Nach einem Moment nickt Patrick.
    »Ich weiß nicht, ob die Vietnamesen wirklich so schrecklich sind«, sagt er, »oder der Kommunismus oder so. Du weißt, Mom, ich lese nicht mal Zeitung. Ich will … ich will einfach was erleben. Ich will einfach zur Vordertür rausgehen und Sachen sehen, die ich vorher noch nie gesehen habe, und Dinge riechen, die ich noch nie gerochen habe, und … und vielleicht … vielleicht …« Er verstummt, weil es ihm wohl peinlich ist. Vielleicht schämt er sich sogar. Er schließt die Augen, schluckt, öffnet die Augen wieder und sieht seine Mom an. »Ich werde mich morgen melden, aber ich sage ihnen auch, dass du krank bist«, bringt er heraus. »Vielleicht werden sie mich dann nicht fortschicken.«
    »Nein«, sagt seine Mom nach einer Weile. »Du solltest gehen.«
    »Und was ist mit dir?«
    Mom lächelt, aber es ist ein hässlicher Anblick. Ihre Lippen sind ausgetrocknet und weiß. Ihre Zähne sind gelb. Doch es ist ein ehrlich gemeintes Lächeln, das auch ihre Augen aufleuchten lässt. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass Patrick sie ehrlich hat lächeln sehen. Er kann sich nicht erklären, wie etwas so hässlich und gleichzeitig so schön
sein kann, doch das ist es. Aber dann ist es genauso schnell wieder verschwunden. Zu schade. Patrick wird nie erfahren, was genau in ihrem Kopf vor sich ging, als dieses Lächeln in ihren Augen stand. Und das ist ebenfalls zu schade.
    »Hier geht es nicht um mich«, erklärt Mom.
    »Aber du hast gesagt …«
    »Ich hatte Angst. Ich habe viel Zeit damit verbracht, Angst zu haben. Aber du solltest gehen, wenn es das ist, was du willst. Ich habe dir genug von deinem Leben weggenommen, denke ich.« Dann dreht sie sich um und

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