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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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Hätte mir eine Menge Peinlichkeiten erspart.«
    Christopher geht zur Couch und setzt sich neben Thomas.
    »Jeder Mensch lügt mal«, sagt er.
    Thomas schüttelt den Kopf. »Aber niemand denkt sich eine ganze Familie aus, Ehefrau und Kinder, nur um etwas zu haben, von dem er sprechen kann, wenn die Kollegen bei der Arbeit Fotos von ihren Liebsten aus den Brieftaschen ziehen. Es ist verrückt, ich weiß. Warum ich es getan hab, ist mir schleierhaft, zum Teil zumindest, aber … ich wünschte … ich wünschte, du wärst nicht …« Seine Stimme verliert sich, er sieht hinunter auf seinen Schoß, und im Zimmer ist es still.
    Nach einer langen Pause sagt er: »Tut mir leid.«
    Christopher legt seine Hand auf Thomas’ Bein, gleich oberhalb des Knies. Thomas betrachtet die Hand und blickt dann zu Christopher.
    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagt Christopher.
    »Ich glaube nicht, dass ich gelogen habe, um jemanden zu täuschen.«
    »Ich weiß.«
    »Ich bin sicher, dass ich nicht damit angefangen habe, weil ich irgendjemanden täuschen wollte.«
    »Ich weiß das.«

    »Ich hab meinetwegen damit angefangen. Ich wollte mir vormachen, dass zu Hause jemand auf mich wartet. Nicht nur ein Kochtopf und eine Dose Chili.« Wieder betrachtet Thomas das Bild auf dem Couchtisch. Wenn auch nur für einen Moment. Dann sieht er wieder zu Christopher. »Niemandem liegt etwas an einem über vierzigjährigen Postboten, der Abend für Abend einen Sixpack trinkt und sich McHale’s Navy reinzieht. Die Menschen interessieren sich nur für Leistung. Sie achten nur den Erfolg. Mit Versagern wollen sie nichts zu tun haben. Niemand errichtet ein Denkmal für den Mann, der niemals jemandem wehgetan hat.«
    »Mir liegt etwas an dir, Thomas«, sagt Christopher und beugt sich vor, um ihn auf den Mund zu küssen. Thomas weicht zurück und stößt Christophers Gesicht von sich.
    »Was machst du denn«, sagt er mit nervös zitternder Stimme.
    »Dich verstehen.«
    Thomas schüttelt den Kopf.
    Er ist verwirrt und spürt, wie sich sein Magen verkrampft. Aber dann streckt Christopher die Hand aus, berührt Thomas’ Kinn und dreht sein Gesicht sanft zu sich. Thomas sieht ihm in die Augen, und er würde lügen, wenn er sagte, dass ihm nicht gefiele, was er sieht, und er würde lügen, wenn er sagte, dass er nicht einsam sei, wenn er sagte, dass er nicht jemandem nahe sein wolle – und als Christopher sich zum zweiten Mal nähert, um ihn zu küssen, lässt Thomas es zu.

15
    Patrick presst seinen Daumen, so fest er kann, gegen das Fensterschloss und beißt die Zähne zusammen. »Komm schon, du Mistding«, flucht er unterdrückt, aber Farbe und Rost wollen sich einfach nicht lösen. Als sie es schließlich doch tun, öffnet sich das Schloss mit einem plötzlichen Ruck. Patricks Hand rutscht ab und schnellt nach vorn, und seine Faust schlägt aufs Fensterglas. Aber die Scheibe zerbricht nicht. Er schüttelt die Hand und sieht sich den roten Abdruck an, den das Schloss auf seiner Daumenkuppe hinterlassen hat. Dann macht er sich daran, das Fenster hochzuschieben. Es kostet ihn einige Mühe, aber schließlich rutscht es in seinem Holzrahmen nach oben und ächzt dabei wie ein müder alter Mann, der an einem Wintermorgen aus dem Bett steigt.
    Als das Fenster offen ist, streckt Patrick seinen Kopf in die kalte Nachtluft hinaus und ruft: »He du! Lass das Mädchen in Ruhe!«
    Der Mann, der über der jungen Frau steht, sieht zu ihm hinauf. Hält inne. Ganz kurz vermutet Patrick, dass der Typ antworten wird, er solle sich um seinen eigenen Scheiß kümmern und sich zum Teufel scheren. Soweit Patrick es erfasst, könnte es sich tatsächlich um einen häuslichen Streit handeln, und dann sollte er sich am besten raushalten. Zumal er auch nicht ganz genau erkennen kann, was da unten vor sich geht. Wenn er sich mit seinem ganzen Körper aus dem
Fenster hängen und dann senkrecht runterschauen würde, könnte er es eventuell, aber das wird er nicht tun. Sowieso scheint es sich nicht gerade um einen simplen Fall häuslicher Gewalt zu handeln. Patrick und der Mann im Hof sehen einander an. Dann dreht sich der Mann um und läuft davon, nach draußen zur Straße, raus ins Dunkel der Nacht.
    Patrick blickt noch kurz hinunter in den Hof. Er kann sehen, wie die junge Frau sich mühsam aufrichtet und schließlich sitzt. Genau erkennt er jedoch nur ihre Knie und ihren Kopf. Ihr Rücken ist verdeckt vom Wohngebäude und liegt im Schatten. Er schiebt das Fenster wieder

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