Ein allzu braves Maedchen
und starrte in meine Richtung. Die weiße Haut seines abgemagerten Körpers leuchtete gespenstisch, und ich wagte nicht zu atmen. Seit Tagen war er nicht mehr aufgestanden, er war nicht mehr ansprechbar gewesen, hatte sich vielleicht schon auf den Weg ins Totenreich gemacht, wie meine Mutter die ganze Zeit sagte. Es war wie eine Wiederauferstehung, Todesangst schnürte mir die Kehle zu.
Den Bruchteil einer Sekunde schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich wahrscheinlich träumte, aber da löste mein Vater sich vom Türrahmen und kam auf mich zu. In der Hand hielt er seinen Spazierstock. Das leise Klackklack, als er auf mein Bett zusteuerte, mischte sich mit dem Geräusch des Windes. Auf der Terrasse krachten die Stühle gegeneinander, und ich zuckte zusammen, als hätte man mich geschlagen. Was mir genau durch den Kopf ging, weiß ich nicht mehr. Nur, dass das nicht sein konnte. Dass er doch im Sterben lag.
Ich hatte manchmal schon zaghaft daran gedacht, wie das wohl sein würde, wenn ich wieder Freundinnen haben könnte, wenn ich nachts schlafen dürfte, und vor allem keine Angst mehr haben müsste. Jetzt schien dieser Traum in weite Ferne zu rücken. Mein Vater würde nie sterben. Er hatte sich erholt.
Er gurgelte ein leises, hohes ›Hallo?‹, ich rührte mich nicht. Langsam kam er näher. Sein Atem rasselte. Es fiel ihm schwer, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, aber er schien sich an den Weg zu meinem Bett zu erinnern. Als er sich zu mir hinabbeugte, um meine Bettdecke zu befingern, stöhnte er tief auf. Sicher hatte er Schmerzen. Ich rutschte an die äußerste Bettkante und drückte mich an die Wand. Ich hatte solche Angst davor, das Licht anzumachen, weil ich wusste, welcher Anblick mich erwarten würde. Ich hörte, wie mein Vater sich langsam auf dem Bett vorschob und mit den Händen über die Matratze strich, als würde er etwas suchen. Immer näher kam er mir, da nahm ich all meinen Mut zusammen, stützte mich an der Wand ab und trat in die Dunkelheit hinein, bis ich seinen harten, mageren Körper unter den Fußsohlen spürte. Ich trat immer weiter, trat ihm in die Rippen und ins Gesicht, war gepackt von einer Todesangst, für die es keine Worte gibt. Er sackte vom Bett, ich hörte ein dumpfes Poltern und spürte keinen Widerstand mehr. Dann sprang ich auf, rannte zur Tür und im Dunkeln weiter in die Küche. Da kauerte ich mich in eine Ecke und wartete. Nichts passierte. In der Wohnung war es totenstill, kein Geräusch drang zu mir.«
Sie brach ab. Ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt, und ihre Augen flackerten panisch.
»Versuchen Sie, weiterzusprechen. Was geschah in der Küche?«
»Irgendwann fasste ich einen Plan. Ich stand auf, machte überall Licht und öffnete die Tür zu meinem Kinderzimmer. Als die Lampe anging, sah ich ihn vor meinem Bett liegen. Er lag mit dem Gesicht nach unten, der Körper war gekrümmt, die Beine angewinkelt. Langsam trat ich zu ihm hin. Seine Augen waren geöffnet, und er starrte auf etwas, das ich nicht sehen konnte. Neben ihm lag mein Stoffhund. Den hatte ich von meiner Tagesmutter bekommen, als wir wegziehen mussten. Wahrscheinlich war er durch mein Strampeln vom Bett gefegt worden.
Obwohl ich Angst vor meinem Vater hatte, kniete ich mich neben ihn und sagte: ›Hallo, Papa, was machst du denn da auf dem Boden?‹ Ich erinnere mich plötzlich ganz genau an diesen Satz und wie ich ihn gesagt habe, halb fragend, halb scheinheilig, weil ich’s ja eigentlich wusste.
Er versuchte, mich anzusehen, aber seine Augen verharrten auf halbem Wege und blieben an etwas anderem hängen. Dann sagte er sehr leise etwas, was ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde. Vielleicht war das der erste Satz, der an mich gerichtet war. Er sagte: ›Goldchen, es tut mir leid. Nicht schimpfen.‹
Obwohl er sicher dachte, dass er mit meiner Mutter sprach, denn sie war das Goldchen, ich nur das Balg, machten mich diese wenigen Worte glücklich. Ich fühlte mich meinem Vater in diesem Moment das erste Mal in meinem Leben nah, und ich spürte auch, dass das der Augenblick war, auf den ich immer gewartet hatte.«
Wieder stockte sie. Und ihre Worte waren danach schwer zu verstehen, weil sie das Weinen unterdrücken musste: »Ich wollte diesen Moment so gern festhalten.«
Die Therapeutin streichelte sanft ihre Hand und wartete geduldig, bis die junge Frau die Kraft fand, weiterzusprechen.
»Es war sehr still in meinem Kinderzimmer. Der Wind draußen legte sich
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