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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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gelang ihr nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren, in ihrem Kopf herrschte Chaos. Dabei spürte sie, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende war. Sie spürte, dass sie auf Dr. Minkowa hören musste, sonst würde das in ihrem Kopf nie aufhören.

MITTWOCH
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Der Pflichtverteidiger versuchte mit der jungen Frau ins Gespräch zu kommen. Sie schien kein besonderes Interesse daran zu haben, sich verteidigen zu lassen. Jetzt saß sie teilnahmslos in ihrem Zimmer, der Wind warf Schneeflocken an die Scheibe des kleinen Fensters. Die junge Frau beobachtete, wie sich eine undurchsichtige Schneewand am unteren Rand des Glases bildete und sich langsam emporarbeitete. Bald würde man nicht mehr hinaussehen können, von der Umwelt abgeschnitten sein. Das wäre schön.
    Sie wusste nicht, was sie in der letzten Zeit so niedergedrückt hatte. Wie ein auf dem Rücken liegender Käfer hatte sie sich diesem Gefühl ausgeliefert. Sie konnte nicht fliehen, weil sie nicht erkannte, woher das Dunkel gekommen war. Das waren die Momente, wo sie tot sein wollte. Wo sie sich unter normalen Umständen, in der sogenannten Freiheit, das Leben genommen hätte. Der einzige Grund, warum sie sich manchmal wünschte, draußen zu sein. Endlich tot sein. Endlich Ruhe.
    Aber jetzt ging es ihr langsam besser.
    Sie hatte sich an ihr Zimmer gewöhnt. Es war zu einer Art Heimat für sie geworden. Zwar gab es darin nichts, was ihr gehörte, sie wollte auch nichts Privates in ihrer Nähe haben, das machte sie zu angreifbar und erinnerte sie zu sehr an das, was gewesen war. Aber ihr Geruch war mittlerweile in dem kleinen Raum, und wenn sie von draußen hereinkam, fühlte sie sich geborgen. Wie ein Hund, der in seine Hütte zurückkehrt.
    Ihr altes Leben war vorüber. Sie hatte versäumt, es zu nutzen. Das spürte sie.
    Der Schnee ließ sie plötzlich an einen Schulausflug denken. In den Faschingsferien war sie mit ihrer Klasse zum Skifahren nach Österreich gefahren. Das war ein großes Ereignis, weil sie ja sonst nie von zu Hause wegkam, und sie hatte sich sehr darauf gefreut. Da die Eltern kein Geld hatten, bekam sie alte Holzskier von der Nachbarin geliehen. Die hatten keinen Stahlrahmen und waren an den Rändern abgesplittert und ausgefranst. Sie hatte keinen Skianzug und war am Berg in kürzester Zeit klatschnass. Außerdem war sie extrem kurzsichtig, konnte aber ihre Brille nicht aufsetzen, weil die sofort beschlug. Die Klassenkameraden hatten nach jeder Abfahrt auf sie gewartet und sich die Beine in den Bauch gestanden. Sie glaubte, jedes Kind bete darum, dass sie sich ein Bein brechen und nach Hause zurückfahren würde. Am dritten Tag konnte sie nicht mehr. Sie stand morgens nicht mehr auf. Sie aß nicht mehr und sprach nicht mehr. Sie war nicht mehr da. So verbrachte sie die restlichen zwei Tage allein, und je mehr ihr bewusst war, dass sie immer einsamer wurde, desto weniger konnte sie dagegen machen. Sie gab sich diesem Zustand hin und spann sich ein in ihre Einsamkeit.
    Wie traurig, wenn man das Scheitern lange vorher erkennt, beobachtet, wie es sich langsam anschleicht. Und anstatt zu fliehen, bleibt man bewegungslos und lässt sich fangen.
    Das erzählte sie der Psychiaterin, als sie sich nachmittags wieder trafen. Obwohl sie nicht mehr mit ihr sprechen wollte, konnte sie nicht anders. Sie musste es einfach erzählen. Sie brauchte dieses Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte. Es war nicht Erleichterung. Vielleicht Genugtuung? Auf jeden Fall fühlte sie sich immer ein bisschen weniger allein.
    Dr. Minkowa sah sie lange traurig an und nickte dann kaum wahrnehmbar. Das war mehr wert als tausend Worte. Dieser kleine Augenblick des Mit-ihr-Seins machte die junge Frau unendlich glücklich.
    Warum hatte ihre Mutter nicht so gucken können?

DONNERSTAG
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Wieder ist es Nacht. Sie kauert vor dem Medizinschränkchen der Eltern im Esszimmer. Der Vater ist wach, sie muss sich beeilen. Deshalb nimmt sie die Schachteln mit dem Valium und dem Lexotanil heraus und löst die Pillen aus der Verpackung. Dann häuft sie sie vor sich auf den Teppichboden zu einem kleinen Berg.
    Sie hört die Schritte des Vaters im Flur. Sie kommen näher. Panisch sucht sie in den Schränken nach einem Behälter, um die Pillen zu verstecken. Sie kann nichts finden. Die Schränke sind voller Nippes. Kinder und Hunde aus Porzellan.
    Da steht er vor ihr. Er sieht sie mit einem Blick an, der nichts Gutes verheißt. »Hallo, Papa, ich sortiere gerade deine Medizin.«
    Sein

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