Ein allzu braves Maedchen
hatte ihm extra was gekocht. Da war ich vielleicht sechs Jahre alt und allein mit ihm in dem großen Haus, weil meine Mutter gearbeitet hat. Ich sagte ihm, er solle fressen, was man ihm gibt, sonst könnte er was erleben. Er weigerte sich und verkroch sich in eine Ecke. Ich war so erzogen worden, dass der Teller leer gegessen wird. Immer. Und wenn ich danach kotzen musste, hieß es, ich sei undankbar. Ich hasste es zu essen. Für mich war das immer mit Zwang verbunden. Ich habe das nie genossen. Warum sollte es dem Hund besser gehen? Dabei habe ich ihn geliebt.
Später habe ich mich dann als gute Fee verkleidet, bin wieder zu ihm hin und habe ihm gesagt, dass ich jetzt echt sei und das andere Mädchen ein böser Traum. So habe ich es immer gemacht.
Ich bin eigentlich zu zweit. Die kalte Seite brauche ich, um nicht unterzugehen, um mich gegen die Welt behaupten zu können, ohne verletzt zu werden. Und die warme ist nur für mich. Damit ich nicht immer traurig bin und mich manchmal wärmen kann, wenn niemand zusieht.«
FREITAG
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»Erzählen Sie von dem Tag, an dem Ihr Vater starb.«
»Da war ich zwölf. Ich erinnere mich daran, dass ich an dem Tag frühmorgens in meinem Zimmer auf dem Boden saß und aus dem Fenster blickte. Es regnete, die Wolken hingen tief und grau über den Bäumen, als der Himmel plötzlich auseinanderbrach und die Sonne gleißend durch die Wolken schien. In dem Moment wusste ich, dass etwas passiert war. Ich stand auf und ging nach nebenan ins Schlafzimmer meiner Eltern. Dort lag mein Vater und wartete auf den Tod. Zu der Zeit betrat ich den Raum schon ungern. Der süßliche Geruch, den sein magerer Körper ausströmte, der starre, leere Blick seiner Augen, das rasselnde Stöhnen, das er immer wieder von sich gab. All das war mir zuwider. Nicht, dass ich mich fürchtete, aber ich hatte lieber Menschen um mich, die funktionierten. Das geht mir bis heute so. Vielleicht liegt das an meinem Beruf, ein gewisses Maß an körperlicher Fitness ist da schon ganz hilfreich.« Sie lächelte kurz in sich hinein, fuhr aber gleich fort: »Ich stand an dem Bett meines Vaters und guckte in sein Gesicht, als er sich plötzlich aufrichtete, die Augen weit aufriss, einen tiefen Seufzer ausstieß, in sein Kissen zurücksank und starb. Das ging sehr schnell, und ich muss sagen, dass ich in dem Moment sehr froh war. Ich habe ihn nicht gemocht.«
Sie dachte an seine blauen Augen und die schlurfenden Schritte, wenn er unruhig durch die Wohnung gegeistert war.
»Das kann ich immer noch schwer begreifen. Dass er mich nicht erkannte, das kann ich bis heute nicht fassen. Ich bin kein Mensch, der schlechte Erfahrungen ein Leben lang mit sich rumschleppt und alles, was ihm in der Gegenwart so passiert, mit der Vergangenheit in Verbindung bringen möchte. Von wegen, weil dein Vater dich nicht lieben konnte, kannst du auch nicht lieben. Was für ein Blödsinn! Du rächst dich an den Männern, die dir über den Weg laufen, indem du sie ausnimmst. Damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Das ist schon alles meine eigene Entscheidung. Ich kann Entscheidungen treffen. Ich bin ja nicht geistig umnachtet, nur weil er verrückt war.«
Die beiden Frauen sahen einander an.
»Ja, da haben Sie recht«, sagte Dr. Minkowa. »Aber ganz so einfach ist es nicht. Sie dürfen nicht alle Schuld bei sich suchen.«
»Mein Leben war überschaubar, und das ist wichtig für mich. Ich hatte genug Kohle, um es mir einigermaßen gut gehen zu lassen, und dass das Geld nun mal von den Männern kam, denen ich einen runtergeholt habe, daran konnte ich nichts Schlechtes finden. Irgendwoher muss es kommen, es wächst ja nicht auf den Bäumen.«
Es folgte eine lange Pause, in der sie über ihre Vergangenheit nachdachte. Über die Männer, die sie bezahlt hatten. Dann lächelte sie.
»Jetzt spreche ich doch in der Vergangenheit. Aber es gibt kein Zurück mehr.«
Nach einer erneuten Pause, in der sie an einer Haarsträhne herumzwirbelte, fuhr sie leise fort.
»Im Grunde habe ich keine Probleme damit, wenn mich ein Typ anfasst. Ist sein gutes Recht, er bezahlt ja dafür.«
Sie stockte, dann sagte sie unvermittelt.
»Wirkliche Todesangst hatte ich, wenn sich mein Vater auf mich draufgesetzt hat und mir ins Gesicht schlug. Wenn ich ihm zu frech wurde, hat er mich so lange rund ums Haus gejagt, bis er mich hatte. Dann hat er mich gepackt, auf den Boden geschmissen, sich auf mich draufgesetzt und mir ins Gesicht gelacht. Wenn ich dann immer
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