Ein allzu schönes Mädchen
hielt ihre Hand, bis die Schwestern ihm eine Liege brachten und ihn drängten,
sich endlich ein wenig auszuruhen. Sie stellten ihm Kaffee auf den Nachttisch, den er kalt werden ließ, und Essen, das er
nicht anrührte. Nach einer Woche gestand ihm der Arzt, dass Katharina kaum eine Chance habe zu überleben. Sie starb am Abend
des 11. Februar 1985.
Robert Marthaler ging nicht mehr zurück in die kleine Wohnung in der Marburger Oberstadt. Er bat einen Freund, ihm einen Koffer
mit seiner Kleidung zu holen, stieg in einen Zug und fuhr zu seinen Eltern nach Kassel. Dort bezog er sein altes Zimmer und
legte sich ins Bett, das er nur zu den Mahlzeiten verließ. Er hatte aufgehört zu sprechen. Der Arzt, den seine Mutter aus
Sorge einmal pro Woche kommen ließ, musste jedes Mal unverrichteter Dinge wieder gehen. Marthaler starrte an die Decke und
weinte. Er weinte und starrte an die Decke. Nach einem halben Jahr verließ er zum ersten Mal die elterliche Wohnung. Es war
später Abend, fast Mitternacht, |45| als er die Haustür hinter sich zufallen hörte. Er hielt einen Moment inne, schloss kurz die Augen, dann begann er durch die
menschenleeren, dunklen Straßen zu laufen. Er lief und lief, als könne er nur so seinen Schmerz und seine Trauer ertragen.
Jede Nacht durchwanderte er von nun an die Stadt, um gegen Morgen, wenn seine Eltern so taten, als ob sie noch schliefen,
in das Haus und in sein Bett zurückzukehren. Anfang November desselben Jahres verkündete er seinen Entschluss. Es war das
erste Mal, dass er wieder sprach, und er musste mehrmals ansetzen, bis seine Stimme ihm gehorchte. Er habe entschieden, sein
Studium nicht wieder aufzunehmen, sondern stattdessen nach Frankfurt zu ziehen, wo Katharinas Eltern wohnten und wo sie ihre
Tochter hatten beerdigen lassen. Er wolle seiner toten Frau so nahe wie möglich sein. Wenn Vater und Mutter bereit seien,
ihn für den Anfang mit einem Teil ihres Ersparten zu unterstützen, wolle er sich in der Stadt am Main eine kleine Wohnung
oder ein Zimmer nehmen und sich dort um eine Stelle bei der Polizei bewerben.
|46| Zwei
Inzwischen war Marthaler seit vielen Jahren Kriminalpolizist. Anfangs hatte er sich in die Arbeit gestürzt, um auf andere
Gedanken zu kommen. Manche seiner Kollegen und Vorgesetzten hatten seinen Eifer mit Ehrgeiz verwechselt. Weil er gewissenhaft
und zuverlässig war, hatte man ihn befördert und ihm mehrere Auszeichnungen verliehen. Man respektierte ihn, auch wenn er
als Sonderling galt. Es hieß, er sei ein hervorragender Polizist und ein überaus höflicher Kollege, aber man werde aus ihm
nicht schlau. Marthaler war das recht. Ihm war nicht daran gelegen, dass man schlau aus ihm wurde. Das Interesse an seinem
Beruf war mit den Jahren geringer geworden, und inzwischen wurde ihm die Arbeit auch manchmal zur Last, was nicht zuletzt
an Herrmann, dem neuen Leiter seiner Abteilung, lag. Immer öfter hatte Marthaler Lust, morgens einfach liegen zu bleiben,
sich krank zu melden und den Tag mit angenehmeren Dingen zu verbringen.
Heute war Dienstag, der 8. August 2000, es regnete seit Stunden, aber Marthaler lächelte. An Katharina zu denken, sich ihr Gesicht, ihren Blick, ihre
Bewegungen ins Gedächtnis zu rufen, war für ihn das Schönste, was er sich vorstellen konnte. Er sprach mit niemandem darüber.
An das Alleinsein hatte er sich inzwischen gewöhnt. Das war nicht immer so gewesen. Einige Jahre nach Katharinas Tod hatte
es Zeiten gegeben, in denen er sich so einsam fühlte, dass er sich gewünscht hätte, irgendjemand wäre da, wenn er nach Hause
kam, jemand würde neben ihm im Bett liegen und morgens mit ihm reden, er könne etwas Schönes kochen, ohne |47| dann allein am Tisch sitzen zu müssen. Er begann, auf Kontaktanzeigen zu antworten. Ein paarmal verabredete er sich mit einer
Kollegin aus dem Betrugsdezernat zum Schwimmen. Er lud eine Touristin, die er in seinem Stammcafé kennen gelernt hatte, zum
Essen ein. Und war doch jedes Mal froh, dass sich aus solchen halbherzigen Bemühungen nicht mehr ergab. Er war freundlich,
blieb aber distanziert. Und er merkte, dass die Frauen auf seine übergroße Höflichkeit mit Befremden reagierten und sich zurückzogen.
Sie spürten wohl, dass er die Regeln für das Spiel zwischen den Geschlechtern nicht beherrschte, und er hatte keine Lust,
diese Regeln zu lernen. Bei Katharina hatte er sich nie verstellen müssen. Sie beide waren ohne
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