Ein allzu schönes Mädchen
Kondenswasser dicke Tropfen. Marthaler blieb stehen und sah in den Himmel,
wo die Sonne gerade über den Dächern aufging. Er kniff die Augen zusammen, dann blickte er auf die Uhr. Er beschloss, noch
ein wenig am Main spazieren zu gehen. Auf der Höhe des Städelschen Museums setzte er sich auf eine Bank und sah zum anderen
Ufer, wo sich die Skyline erhob. Er mochte diesen Blick auf die Stadt, wie er die Stadt überhaupt mochte, mit den hohen Häusern
der Banken, dem Messeturm, dem Dom, dem Römerberg und der Alten Oper. Er mochte sie schon deshalb, weil es so viele gab, die
sie verabscheuten, ohne sie wirklich zu kennen. Er hatte sich vom ersten |50| Tag an hier wohl gefühlt, soweit er damals in der Lage gewesen war, sich wohl zu fühlen. Und er verstand seine Kollegen nicht,
von denen viele es vorgezogen hatten, sich in der Umgebung in einer hässlichen Neubausiedlung ein Fertighaus zu bauen, und
die nur zum Dienst und zum Einkaufen nach Frankfurt fuhren, um dann so rasch wie möglich in ihre Siedlungen zurückzukehren.
Marthaler lief den Fußweg am Mainufer zurück, bog ab in die Schweizer Straße, wo sich jetzt Auto an Auto reihte und wo die
Berufstätigen auf ihrem Weg zur Arbeit über die Bürgersteige hasteten. Gleich am Anfang der Diesterwegstraße ging er durch
einen kleinen Torbogen, durchquerte den Hinterhof und stand vor dem Eingang des «Lesecafés». Weil sein Stammcafé eigentlich
erst in einer halben Stunde öffnen würde, klopfte er wie üblich an die Scheibe der Tür. Eine junge Frau, die er noch nie gesehen
hatte und die gerade damit beschäftigt war, die Stühle von den Tischen zu nehmen, hob den Kopf. Sie kam zur Tür, drehte den
Schlüssel und sagte: «Wir haben noch geschlossen.»
«Ja», erwiderte Marthaler, und er war ein bisschen ratlos. «Ich weiß, aber Ihre Kollegin lässt mich auch um diese Zeit schon
rein.»
Die junge Frau sah ihn einen Moment lang an, dann lächelte sie und sagte: «Wenn das so ist, o.k.»
Marthaler streckte ihr die Hand entgegen, eine Geste, die ihm gleich darauf viel zu vertraulich und auch ein bisschen altmodisch
vorkam, und sagte: «Guten Morgen, ich heiße Robert.»
«Ja, na dann», erwiderte sie ein wenig verlegen, «ich bin Tereza.»
|51| Drei
Als Werner Hegemann an diesem Morgen um sechs Uhr seinen Dienst beendet hatte, fühlte er sich, als habe er seit Tagen nicht
mehr geschlafen. Vor Erschöpfung war ihm flau im Magen, seine Nerven flatterten, und er hatte große Lust, diesen Job einfach
hinzuwerfen. Aber er brauchte das Geld, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Wut ein ums andere Mal hinunterzuschlucken.
Hegemann war achtundzwanzig Jahre alt, ein schlanker, fast leptosomer Typ mit kurz geschnittenem blondem Haar. Seine Eltern
waren geschieden. Er lebte gemeinsam mit seiner Mutter, einer gebürtigen Österreicherin, in einer kleinen Zweizimmerwohnung
im Frankfurter Stadtteil Oberrad. Im Moment arbeitete er für eine Zeitarbeitsfirma und war seit Anfang Juni, seit Beginn der
Urlaubszeit, im Hotel «Lindenhof» als Nachtsteward eingesetzt. Heute Nacht hatte er ein schreiendes Baby gewickelt, dessen
Mutter, Inhaberin einer Schauspieleragentur, sich gerade an der Hotelbar mit einem ihrer Klienten betrank und nicht gewillt
war, sich durch die Verdauung ihres Sprösslings stören zu lassen. Dann hatte er eine Stunde lang vergeblich versucht, den
Streit eines älteren Ehepaares zu schlichten. Und schließlich musste er sich um vier Uhr morgens noch zur Dienst habenden
Apotheke begeben, um das ebenso seltene wie dringend benötigte Medikament für einen herzkranken arabischen Geschäftsmann aufzutreiben.
Hegemann mochte die Gäste dieses Hotels nicht. Er mochte die Selbstsicherheit nicht, mit der sie auftraten, die Schamlosigkeit
nicht, mit der sie ihr Geld zur Schau stellten, und die Weltläufigkeit nicht, mit der hier Menschen aller Nationen |52| vollkommen selbstverständlich miteinander umgingen, als gebe es keine Unterschiede. Hegemann empfand es als Zumutung, dass
er gezwungen war, sich nachts für einen reichen Araber die Hacken abzulaufen.
Der Name des Hotels täuschte. Der «Lindenhof» war nicht etwa ein Landgasthaus, sondern ein großes Luxushotel, das im Süden
des Frankfurter Waldes lag, auf dem Stadtgebiet von Neu-Isenburg, einer Siedlung, die Ende des 17. Jahrhunderts von ausgewanderten Hugenotten gegründet worden war und die heute besonders bei den Beschäftigten des
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