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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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jeden Argwohn neugierig aufeinander
     gewesen, auf die Eigenheiten des anderen, auf seine Qualitäten, aber auch auf seine Schwächen.
    Marthaler fragte sich, warum es seinen Eltern gelang, ein ganzes Leben lang ein glückliches Paar zu bleiben, und warum das
     in seiner Generation offenbar kaum jemandem mehr möglich war. Er war umgeben von Kollegen, die sich gerade getrennt hatten,
     die kurz vor einer Scheidung standen oder schon gar nicht mehr den Versuch unternahmen, eine feste Partnerschaft aufzubauen.
     Es waren seltsame Beziehungen, die die Männer und Frauen seines Alters zueinander unterhielten. Man ging miteinander aus,
     man schlief miteinander, nur miteinander leben, das wollte oder konnte man nicht. Und doch war es das, was anscheinend allen
     fehlte.
    Robert Marthaler stand am offenen Fenster und schaute auf die Front des gegenüberliegenden Hauses. Manchmal konnte er dort
     im zweiten Stock eine junge Frau sehen, die ihre Morgengymnastik machte. Einige Male war sie ihm auf der Straße begegnet,
     ohne ihn zu erkennen. Meist trug sie ein blaues Kostüm und zog einen kleinen Rollkoffer hinter sich her. Offensichtlich arbeitete
     sie als Stewardess. Jetzt waren im Nachbarhaus |48| alle Fenster dunkel. Es war noch zu früh. Eben erst hatte der Radiosprecher die Zeit durchgegeben: «Es ist fünf Uhr achtunddreißig,
     Sie hören das Frühkonzert.» Marthaler ging in die Küche, füllte die Cafetiere mit Wasser und stellte sie auf den Herd. Noch
     im Schlafanzug stieg er die zwei Stockwerke hinunter und holte sich die Zeitung. Wieder in der Wohnung, setzte er sich an
     den Küchentisch und überflog die Nachrichten des Tages. Sir Alec Guinness war gestorben. Im U S-Bundesstaat Oregon hatte man einen unterirdischen Riesenpilz entdeckt, der viermal so groß war wie die Insel Helgoland. In Brandenburg
     war schon wieder ein Schwarzer von Neonazis zusammengeschlagen worden. Die Unternehmerverbände beklagten den Rechtsradikalismus
     als Standortnachteil für die deutsche Wirtschaft. Und in wenigen Stunden würde der amerikanische Präsident mit dem deutschen
     Bundeskanzler in Frankfurt zusammentreffen.
    Er hörte das Brodeln der Cafetiere, schaltete die Herdplatte ab, schenkte sich einen dreifachen Espresso ein, gab zwei gehäufte
     Teelöffel Zucker hinzu, legte beide Hände um die Tasse und stellte sich wieder ans Fenster, um in den grauen, leeren Himmel
     zu starren. Er war vierzig Jahre alt, er war seit zweieinhalb Jahren Hauptkommissar, er hatte keine Frau, kein Kind und kein
     Haus. Er war nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich. Sein Gehalt war nicht übermäßig hoch, und doch verdiente er mehr
     Geld, als er ausgeben konnte. Teure Kleidung interessierte ihn so wenig wie große Autos. Seit sein alter Golf vor ein paar
     Wochen verschrottet werden musste, hatte er sich vorgenommen, ohne Wagen auszukommen. Nur beim Essen war er wählerisch. Von
     Zeit zu Zeit gönnte er sich den Besuch in einem guten Restaurant, sein Fleisch kaufte er beim besten Metzger der Stadt, und
     wenn er Salat, Gemüse oder frische Kräuter brauchte, ging er in die Kleinmarkthalle. Er wusste, dass es viele in dieser Stadt
     gab, |49| die gerne mit ihm getauscht hätten. Er hätte allen Grund gehabt, zufrieden zu sein. Aber er war neidisch, wenn er samstagvormittags
     ein schlecht gekleidetes, aber lachendes Paar mit seinen Kindern an der Bratwurstbude stehen sah. Er lebte ein Leben, das
     er sich so nicht vorgestellt hatte. Und er glaubte nicht, dass sich daran noch einmal etwas ändern würde.
    Marthaler nahm seine kleinen Hanteln auf, machte ein paar Übungen, ließ es dann aber bleiben. Er setzte sich auf den Hometrainer
     und merkte schon nach wenigen Minuten, dass er auch daran keinen Spaß fand. Er war faul, und er beschloss, sich diese Faulheit
     heute zuzugestehen. Er ging am Spiegel vorbei, streckte seinem Bild die Zunge heraus, zog sich aus und stellte sich unter
     die Dusche. Als er zehn Minuten später das Wasser abdrehte, läutete das Telefon. Er ließ es läuten. Es gab niemanden, der
     ihm um diese Zeit etwas Angenehmes mitzuteilen hätte. Er zog sich an und verließ die Wohnung. Er wollte laufen.
    Der Regen hatte aufgehört. Jetzt war es warm; der Asphalt dampfte. An den Haltestellen der Straßenbahn standen erst wenige
     Leute. Sie schauten unter sich und gähnten. In der hell erleuchteten Bäckerei tranken Frühaufsteher ihren Kaffee und blätterten
     in der Zeitung. An den großen Fenstern bildete das

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