Ein allzu schönes Mädchen
In dem kleinen Ort Fouday fand sie eine offene Bar, der eine Herberge
angeschlossen war. Sie legte sich ins Bett und schlief noch in derselben Minute ein. Am Morgen wurde ihr das Frühstück von
einer mürrischen Alten serviert, deren kleiner Enkel mit seinem roten Plastikauto an Manons Tisch kam und sie lange ansah,
ohne etwas zu sagen. Schließlich fragte der Junge: «Bist du eine Schauspielerin?» Manon lachte und sagte: «Nein, ich glaube
nicht.»
«Doch», erwiderte der Junge, «meine Oma hat gesagt, dass du bestimmt eine Schauspielerin bist.»
Einmal fragte sie einen Lkw-Fahrer, ob er sie ein Stück mitnehmen könne, dann wieder nahm sie den Autobus, der sie von Barr
nach Molsheim brachte.
Am Nachmittag lief sie über eine kleine, verlassene Landstraße in der Nähe von Straßburg. Ein Sportwagen fuhr mit hohem Tempo
an ihr vorüber, hundert Meter weiter bremste der Fahrer abrupt, wendete und passierte sie erneut, diesmal deutlich langsamer.
Manon erkannte ein deutsches Nummernschild. Beim dritten Mal näherte sich ihr das Auto wieder von hinten, nun bereits im Schritttempo,
und blieb ein paar Meter vor ihr am Straßenrand stehen. Als die Scheibe des Wagen heruntergelassen wurde, hörte Manon laute
Musik und |38| die übermütigen Stimmen einiger junger Männer. Ein blonder Stoppelkopf beugte sich aus dem offenen Fenster und lachte Manon
zu: «He, Süße, wo soll’s denn hingehen?»
Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg sie und lachte ebenfalls.
«Egal», sagte der Stoppelkopf, öffnete die Tür, stieg aus, klappte den Beifahrersitz nach vorne, machte eine Verbeugung in
Richtung des Mädchens und lud es mit einer ausholenden Handbewegung ein: «Wenn Frau Gräfin bitte einsteigen wollen.»
Es waren drei junge Männer, die in dem kleinen Wagen saßen, und nun, da sie ihr Ziel erreicht hatten und das schöne Mädchen
auf der engen Rückbank Platz genommen hatte, schien sie mit dem Übermut auch ihr Mut zu verlassen, denn plötzlich waren sie
froh, dass die Musik laut genug war, ihre Beklommenheit zu überdecken. Manon war müde. Sie zog die Beine ein wenig an, legte
ihren Kopf auf die Rückenlehne und schloss die Augen. Als sie die Grenze überquerten, schlief sie bereits fest. Sie hörte
nicht, wie der Fahrer über den nachfolgenden Wagen fluchte, der ihnen mit aufgeblendetem Fernlicht folgte. Und sie merkte
nicht, wie sie kurze Zeit später die Bundesstraße verließen, auf die Autobahn abbogen und Richtung Norden fuhren.
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|39| Zweiter Teil
|41| Eins
Es dämmerte gerade erst. Der Kriminalpolizist Robert Marthaler lag auf dem Bett in seiner Wohnung und lächelte. Er hatte versucht,
sich Katharinas Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, und diesmal war es ihm gelungen. Seine Frau war seit fünfzehn Jahren tot,
und oft, wenn er sich an ihr Aussehen erinnern wollte, kam ihm nur das Foto in den Sinn, das auf seinem Schreibtisch im Präsidium
stand. Aber heute lächelte er, weil er sie so deutlich vor Augen hatte wie schon lange nicht mehr und weil heute sein Sommerurlaub
begann. Vielleicht würde er sich in den Zug setzen und für ein paar Tage ins Allgäu fahren oder in die Schweiz. Vielleicht
würde er auch in der Stadt bleiben, ins Museum gehen, ins Kino, Eis essen und einmal am Tag, gegen Abend, wenn es langsam
kühler wurde, mit dem Bus zum Friedhof fahren. Gerne hätte er sich mal wieder einen jener französischen oder italienischen
Filme angeschaut, die sie damals als Studenten in Marburg gemeinsam gesehen hatten. Vielleicht sogar Fellinis «Amarcord» oder
Godards «A bout de souffle». Im Jahr, nachdem Jean Seberg gestorben war, waren sie gemeinsam nach Paris gefahren und hatten
eine Rose auf das Grab der Schauspielerin auf dem Friedhof Montparnasse gelegt. Dann waren sie zum Jardin du Luxembourg gegangen,
hatten sich auf die Wiese gelegt, und irgendwann war Katharina aufgestanden, hatte ihre Schuhe abgestreift, sich auf den Rand
des Brunnens gesetzt, ihre Füße im Wasser gekühlt, und er hatte fotografiert. Sie hatte auf eines der alten Häuser gezeigt,
die gegenüber dem Park lagen, und gesagt: Da drüben irgendwo hat der Dichter Gustave Flaubert während seiner Studienzeit gewohnt.
Dann waren sie an die |42| Seine gegangen und hatten sich ein viel zu teures Essen geleistet, mit Schnecken, Lammkoteletts und hinterher einem riesigen
Eis. Später waren sie über den Boulevard de Clichy geschlendert, und Katharina
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