Ein allzu schönes Mädchen
hatte ihn gedrängt, mit ihr in eine der Striptease-Bars
zu gehen. Eine Stunde lang hatten sie in dem schummrigen Raum gesessen, sich bei den Händen gehalten und den Mädchen auf der
Bühne zugeschaut. Er hatte gemerkt, dass Katharina ihn immer wieder von der Seite ansah. In der Nacht, als sie auf dem breiten
Bett in ihrem Hotelzimmer lagen, hatte sie ihn gefragt, ob er erregt sei. «Mmmh, ja, ein bisschen. Und du?» Sie hatte genickt
und gelächelt und dann vor Verlegenheit ihr Gesicht in seiner Achselhöhle versteckt.
Sie hatten sich während des Germanistikstudiums in einem Oberseminar kennen gelernt und sich beide für dieselbe Arbeitsgruppe
gemeldet. Schon nach wenigen Treffen stellten sie fest, dass sie viele gemeinsame Vorlieben hatten, dass sie über dieselben
Dinge wütend wurden und über dieselben Scherze lachen konnten. Sie verabredeten sich immer öfter auch außerhalb der Universität,
frühstückten gemeinsam, machten Ausflüge, gingen ins Theater, und ohne dass sie sich ihre Liebe anders als durch Blicke und
Gesten gestanden hätten, fragte Marthaler sie eines Abends, ob sie ihn heiraten wolle. Nach zwei schlaflosen Nächten stand
Katharina morgens vor seiner Tür, strahlte über das ganze Gesicht und sagte: Ja. Sie bestellten das Aufgebot und sagten ihren
Eltern, Geschwistern und Freunden erst wenige Tage vor der standesamtlichen Trauung Bescheid. Sie veranstalteten eine kleine
Feier in einem italienischen Restaurant, packten am nächsten Tag ihre Koffer, fuhren für eine Woche ins Burgund und waren
von nun an keinen einzigen Tag mehr getrennt.
Wenn in ihrem Freundeskreis wieder mal ein Paar auseinander |43| ging, schauten sie sich an, ohne etwas zu sagen. Sie wussten, dass sie einander nie verlassen würden. Mochte auch alles dagegen
sprechen, mochte auch niemand glauben, dass es eine Liebe gab, die ewig hielt, so waren sie eben die Ausnahme.
Sie machten Pläne, malten sich aus, wie es später sein würde. Sie wollten Kinder haben. Drei oder vier. Vielleicht mit Freunden
ein Haus auf dem Land kaufen. Vorne sollte es eine Steintreppe haben und hinten eine abschüssige Wiese, vielleicht, dass ein
Bach durch das Grundstück floss, jedenfalls mussten dort Bäume stehen, Kastanien, Kirschen, Birnen, ein paar Birken. Und im
Sommer wollten sie draußen sitzen an einem langen Holztisch, alle würden da sein, die Kinder, die Freunde, die Freunde der
Kinder, womöglich die ersten Enkel, man würde essen und Wein trinken, reden und lachen bis zum Morgen. Und Marthaler sah sich,
nun bereits ein älterer, freundlicher Herr, frühmorgens in einem Korbstuhl auf der Veranda sitzen, Zeitung lesend, den Vögeln
und Schmetterlingen zuschauend, während hinter ihm im Haus noch alles schlief. Dann würde er seinen Strohhut nehmen – immer
sah er sich mit einem Strohhut, wie ihn sein Großvater getragen hatte – und einen ersten Spaziergang durch die Wiesen machen,
am Fluss entlang bis ins Dorf, wo er frische Brötchen kaufen würde und ein paar Süßigkeiten für die Kleinen.
Es war anders gekommen.
Am Morgen des 29. Januar 1985, wenige Tage vor Beginn ihres Examens, war Katharina aufgestanden, hatte ihre dicke Winterjacke und eine Pudelmütze
angezogen, war noch einmal zu ihm ans Bett gekommen, um ihm einen Kuss zu geben, und anschließend, bevor sie den Vormittag
in der Bibliothek verbringen wollte, noch rasch bei ihrer Sparkasse in der Marburger Oberstadt vorbeigegangen, um Geld abzuheben
und die |44| Miete für den nächsten Monat zu überweisen. Sie wollte die Filiale gerade wieder verlassen, als zwei maskierte Männer den
Schalterraum betraten. Einer der beiden packte Katharina, drehte ihren Arm auf den Rücken und hielt ihr eine Pistole an die
Schläfe. Er drängte sie zu dem gepanzerten Kassenhäuschen und befahl dem Kassierer, das Geld durch den schmalen Schlitz unter
der kugelsicheren Scheibe hindurchzuschieben. Katharina raffte die Scheine zusammen und stopfte sie in eine Plastiktüte. Die
beiden Räuber hatten den Ausgang schon wieder erreicht, als eine der Angestellten den Alarmknopf drückte. Die Männer drehten
sich um und begannen fast gleichzeitig zu schießen. Zwei der Bankangestellten erlitten leichte Schussverletzungen, Katharina
wurde in den Kopf getroffen. Sie lag zwei Wochen auf der Intensivstation des Universitätsklinikums, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen.
Marthaler saß Tag und Nacht neben ihrem Bett und
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