Ein allzu schönes Mädchen
nicht.
«Bist du denn gar nicht traurig?»
Manon sah ihn an, als verstehe sie nicht. Dann aber, wie um zu zeigen, dass sie sehr wohl wisse, welches Verhalten man von
ihr erwartete, sagte sie: «Doch, ich glaube schon, ein bisschen.»
|34| Der Bürgermeister schüttelte den Kopf.
«Mädchen, Mädchen», sagt er. «Aber verdammt hübsch bist du.»
|35| Fünf
Madame Fouchards Beerdigung fand bereits am frühen Abend des nächsten Tages statt. Der kleine Friedhof lag oberhalb des Dorfes
im Wald auf einer Lichtung, unweit jener Straße, die Donon mit Schirmeck verbindet und hinter der sich die riesige Forêt du
Donon mit ihren windigen Höhen und tiefen Schluchten erstreckt.
Es waren nur wenige Trauergäste gekommen, und da die Witwe nie eine eifrige Kirchgängerin gewesen war, beschränkte sich der
Pfarrer in seiner Rede auf das Nötigste: ein paar Floskeln über die Verstorbene, wie sie allgemeiner nicht hätten sein können,
und ein paar Ermahnungen an die Lebenden, trotz aller Anfechtungen ein gottgefälliges Leben zu führen, auf dass sie dereinst
in der Lage seien, reinen Herzens vor ihren Herrn zu treten.
Manon, die ihr in den letzten sechzehn Monaten mehr bedeutet hatte als irgendwer sonst, stand nicht am Grab der Witwe Fouchard,
und doch verfolgte sie die Trauerfeier mit größter Aufmerksamkeit. Schon am Morgen hatte das Mädchen seine wenigen Habseligkeiten
und alles Geld, das es im Haus finden konnte, in einen kleinen Koffer gepackt, hatte die Tiere noch einmal gefüttert und dann
gewartet, dass es Nachmittag würde. Gegen 16 Uhr schloss sie die Haustür hinter sich ab, legte, wie sie es von Tante Celeste gelernt hatte, den Schlüssel hinter den Blumenkasten
auf dem Fensterbrett und ging, ohne sich noch einmal umzuschauen, in Richtung Wald auf jenem Weg, den sie vor sechzehn Monaten
in umgekehrter Richtung schon einmal gegangen war. Sie schritt zwischen den Feldern hindurch den Hügel hinauf, begab |36| sich in den Schutz der ersten Bäume und hatte nach einer halben Stunde die Rückseite des Friedhofs erreicht. Sie suchte sich
eine Stelle, wo die oberen Brocken aus der Sandsteinmauer herausgebrochen waren und wo sie, im Schutz der tief hängenden Äste
einer Fichte, das Geschehen auf dem Gottesacker beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Das schwarze Köfferchen
neben sich, ihren Körper gegen die Mauer gedrückt, verfolgte sie jene Zeremonie, die sie bislang nur aus ihren Romanen kannte.
Sie lauschte den Worten und den Liedern, aber mehr noch interessierten sie die Gesichter. Sie richtete ihren Blick auf die
Augen des Pfarrers, die nichts anderes verrieten als Langeweile und routinierte Pflichterfüllung. Sie betrachtete das Mienenspiel
des Bürgermeisters und sah nur Müdigkeit und Heuchelei. Sie schaute sich die alten Frauen an, die jedem Leichenwagen folgten
wie die Krähen dem Pflug, und sah nur Missgunst und Verbitterung. Manon suchte nach jener Sache, auf die sie der Bürgermeister
am Tag zuvor angesprochen hatte. Sie suchte in den Gesichtern nach Trauer und konnte sie nirgends finden.
Sie hob ihren Koffer auf, ging ein paar Schritte in den Wald und folgte dann einem Weg, der sie durch das Dickicht der Bäume
hindurch auf die Nationalstraße brachte. Einmal noch trat sie ins Freie, um zu dem Hügel hinaufzuschauen, wo die Villa der
Winzersfamilie Girod rötlich im Abendlicht glänzte. Sie bemerkte, dass Jean-Lucs Fenster offen stand, und als sie genauer
schaute, glaubte sie einen Schatten zu sehen, der rasch beiseite huschte, als ob jemand, der eben noch am Fenster gestanden
hatte, sich im Innern des Zimmers verbergen wolle. Den kleinen Lichtblitz sah sie schon nicht mehr, ein Blitzen, wie es entsteht,
wenn ein Sonnenstrahl auf Glas fällt, zum Beispiel auf das Okular eines Fernrohrs.
|37| Manons Leben, von dem sie wusste, hatte sich abgespielt zwischen Hühnern und Ziegen, zwischen der Kate der Witwe Fouchard
und dem Dorf, zwischen Bäumen und Feldern. Ihr Leben, von dem sie wusste, war nicht älter als sechzehn Monate. Sie kannte
weder das Meer noch die großen Städte, weder die Oper noch das Theater und keines der feinen Restaurants, von denen Tante
Celeste ihr erzählt hatte. Manon war nie in einem Zug gefahren, hatte nie in einem Hotelbett geschlafen und nie einen Wolkenkratzer
gesehen. Jeder Schritt, den sie von nun an tat, war ein Schritt ins Unbekannte.
Gegen Mitternacht hatte sie die Nationalstraße erreicht.
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