Ein allzu schönes Mädchen
Besprechungsraum und
nahm sich den Stapel der Anrufprotokolle, die noch überprüft werden sollten. Jetzt, da sie die Gesuchte verhaftet hatten,
würde sich wahrscheinlich niemand mehr darum kümmern. Vielleicht würde er heute Abend noch einen Blick hineinwerfen.
Er überquerte den Hof und ging zu dem Schuppen, in dem sein Fahrrad stand. Der Hausmeister war noch da und bastelte an einem
alten Videorecorder herum. Marthaler bat ihn um eine Tüte, in der er seine Papiere transportieren konnte.
«Da hab ich was Besseres», sagte der Hausmeister, und sein Kopf verschwand in einer großen Truhe. Als er wieder auftauchte,
hielt er einen alten Rucksack hoch.
«Hier. Alt, aber o. k. Hab ich selbst wieder zusammengenäht. Der übersteht auch noch den nächsten Krieg.»
«Zwanzig?», fragte Marthaler.
«Zehn langen dicke», sagte der Mann.
Marthaler verstand nicht sofort.
«Zehn Mark sind völlig ausreichend.»
|437| «Bei Ihnen gibt es wohl nichts, was es nicht gibt, oder?»
Der Hausmeister nickte. Und bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen. «Bei mir können Sie sogar Warmwasser und Knopflöcher kaufen.»
Marthaler bedankte sich und reichte ihm den Geldschein. Dann verstaute er die Akten, stieg auf sein Fahrrad und fuhr nach
Hause.
Er stellte den Rucksack mit den Akten im Hausflur ab und brachte das Rad in den Keller.
«Wie war es im Städel?», fragte er Tereza, als er ins Wohnzimmer kam.
«Gut. Sie fertigen mir Reproduktionen der beiden Goyas an. Es gibt noch Negative im Archiv, sodass es wohl nicht allzu teuer
wird.»
Tereza saß auf dem Sofa und schaute Fernsehen. Den Ton hatte sie abgestellt. Marthaler merkte, dass sie noch etwas sagen wollte.
Er wartete.
«Ich fahre morgen nach Madrid», sagte sie.
Er hatte das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. «Du machst was?»
«Ich kann eine Reisegruppe begleiten. Jemand ist krank geworden.»
«Wie lange wirst du bleiben?»
«Die Tour dauert nur eine Woche. Aber ich kann so lange bleiben, wie ich will. Ich bekomme ein Zimmer im Gästehaus der Universität
und kann jeden Tag in den Prado gehen. Ist das nicht ein großes Glück?»
Marthaler schwieg. Er war über seine eigene Reaktion erstaunt. Erst jetzt merkte er, dass er schon gar nicht mehr an die Möglichkeit
gedacht hatte, dass Tereza irgendwann nicht mehr bei ihm wohnen würde.
«Doch», sagte er schließlich, «das ist ein großes Glück.»
|438| Tereza sah ihn an. «Was ist? Ich dachte, wir freuen uns zusammen.»
Ihm fiel keine Antwort ein.
«Ich habe dich im Fernsehen gesehen», sagte sie. «Ihr habt die Frau verhaftet. Ihr habt euren Fall gelöst. Bist du denn gar
nicht froh?»
Marthaler nickte. Dann verließ er das Zimmer. Er war zu verwirrt, um zu reden. Gleichzeitig schämte er sich, dass er sich
nicht ehrlich für Tereza freuen konnte. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als eine Zeit lang in Madrid ihren Studien
nachgehen zu können.
Er nahm seine Akten und setzte sich an den Küchentisch. Er begann, die Telefonprotokolle durchzusehen, aber seine Gedanken
schweiften immer wieder ab. Es waren Hunderte Anrufer aus dem ganzen Land gewesen, die Marie-Louise Geissler irgendwo gesehen
haben wollten. Er wusste nicht, was er suchte. Sie hatten höchstwahrscheinlich die Täterin verhaftet. Aber wie all die rätselhaften
Spuren und Ereignisse zusammenpassten, wussten sie noch lange nicht. Hatte eine zierliche junge Frau allein wirklich den schweren
Jochen Hielscher in den Kofferraum des grünen Fiat hieven und das Auto dann im Weiher versenken können? Und wo war eigentlich
die Tatwaffe, mit der sie aller Wahrscheinlichkeit nach die drei Männer erstochen hatte? Dann fiel ihm ein, dass sie noch
nicht einmal wussten, wieso die Fußspuren an der Fundstelle der ersten Leiche so abrupt auf dem Asphalt endeten. Marthaler
seufzte. Sie hatten noch viel Arbeit vor sich, bis sie den Fall den Juristen überlassen konnten.
Er wollte den Ordner bereits zuschlagen, als eine Notiz seine Aufmerksamkeit weckte. Ein Mann hatte angerufen und gesagt,
Marie-Louise Geissler habe bis vor zwei Wochen in seinem Dorf gewohnt. Danach sei sie spurlos verschwunden. Allerdings habe
er sie unter dem Namen Manon gekannt. Der |439| Mann war Bürgermeister des kleinen Ortes Hotzwiller im Elsass. Er hatte eine Telefonnummer hinterlassen.
Marthaler ging ins Wohnzimmer an den Bücherschrank und zog den großen alten Michelin-Atlas hervor. Er schlug das
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