Ein allzu schönes Mädchen
Haustür und drückte die Klinke nach unten. Jetzt war er froh, dass er vorhin wieder einmal vergessen
hatte abzuschließen. Mit dem Fuß öffnete er die Tür einen Spalt.
Nichts geschah. Vorsichtig schob er seinen Körper ins Freie. Die Waffe hielt er in der Hand. Er schaute nach rechts und links.
Es war niemand zu sehen.
Vielleicht hatte es sich der nächtliche Besucher bereits anders überlegt. Oder es hatte sich nur um einen dummen Streich gehandelt.
Plötzlich meinte er, im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Es war nur ein Schatten hinter den Ziersträuchern. Ein Schatten,
der sich aber mit einem Mal um einen halben Meter verschoben hatte.
Marthaler drückte sich mit dem Rücken an die Hauswand und ging vorsichtig Schritt für Schritt in Richtung des Schattens. Der
Kies unter seinen Schuhsohlen knirschte. Das war nicht zu vermeiden.
Dann hatte er die Hausecke erreicht. Er zielte mit seiner Pistole genau auf das Gebüsch. Er machte einen Satz nach vorn, sah,
dass hinter den Pflanzen niemand war, und drehte sich im selben Moment auf dem Absatz um.
|445| Alles war dunkel und still. Niemand war da. Er wollte gerade die Waffe sinken lassen, als er ein leises Frösteln im Nacken
spürte. Da war ein Geräusch gewesen. Hinter ihm. Ein leises Klicken oder Klimpern. Pling. Pling. Er blieb reglos stehen und
lauschte.
Sekundenlang hörte er nichts als seinen Atem und das gleichmäßige Rauschen der Stadt. Da war es wieder. Als ob jemand mit
einem Stein auf eine Glasscherbe tippt. Pling. Plingpling.
Er musste eine Entscheidung treffen. Entweder er drehte sich um und schoss. Oder er musste sich augenblicklich in Sicherheit
bringen.
Er ließ sich fallen und rollte sich unter den Zierbusch. Er hoffte, die Deckung für einen Moment nutzen zu können, bis er
sich neu orientiert hatte.
Er wartete. Als nichts geschah, robbte er ein Stück weiter und richtete sich auf. Seine Anspannung war so groß, dass er am
liebsten laut gebrüllt hätte.
Er schaute auf den Boden. Seine Augen weiteten sich vor Angst. Obwohl er selbst reglos stand, wuchs der Schatten vor seinen
Füßen. Jemand war hinter ihm. Pling. Der Schatten wurde größer. Er musste schießen.
Als er sich umdrehen wollte, spürte er einen Luftzug am rechten Ohr. Im selben Moment krachte etwas auf seine Schulter. Seine
Waffe fiel zu Boden.
Er sackte auf die Knie, wollte den Kopf noch wenden, um seinen Angreifer zu sehen. Der nächste Schlag traf ihn an der Schläfe.
Sein letzter Gedanke galt der schlafenden Tereza. War die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen? Hatte er die Wohnungstür
verschlossen?
Dann wurde es dunkel.
|446| Sechs
Ich habe Glück gehabt, dachte Marthaler. Ich bin in den Himmel gekommen. Ein ganz so schlechter Mensch kann ich nicht gewesen
sein.
Ein Engel beugte sich über ihn. Er trug ein weißes Gewand. Der Engel lächelte. Um sein Gesicht spielten blonde Locken. Marthaler
lächelte zurück. Er streckte seine Hand aus. Er versuchte, seinen Oberkörper anzuheben. Er wollte das Haar des Engels berühren.
«Nicht bewegen», sagte die Krankenschwester. «Schön brav sein und liegen bleiben.»
Als er sich zurück auf das Kopfkissen sinken ließ, durchfuhr ihn ein reißender Schmerz. Er stöhnte auf. Er schloss die Augen
und biss sich auf die Lippen. Nur langsam ebbte der Schmerz ab. «Was ist los?», fragte er. «Was ist passiert?»
Seine Lippen waren trocken, und seine Stimme klang heiser. Er hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund.
«Ich weiß es nicht», sagte die Krankenschwester. «Meine Schicht hat gerade erst angefangen. Vielleicht ist Ihnen der Mond
auf den Kopf gefallen. Jedenfalls haben Sie eine Gehirnerschütterung.»
Marthaler bat um Wasser. Sie holte ein Glas, setzte sich neben ihn auf den Bettrand und hielt ihm das Glas an den Mund. Als
er getrunken hatte, nahm sie ein Tuch und trocknete ihm das Kinn ab.
«Ich muss telefonieren», sagte Marthaler. «Was ist mit Tereza? Ich muss mit meinen Kollegen sprechen.»
«Nein», sagte die Schwester. «Das müssen Sie nicht. Sie müssen sich ausruhen, das ist alles.»
|447| Bevor sie den Raum verließ, löschte sie das Deckenlicht.
Marthaler versuchte, den rechten Arm zu heben, um seinen Kopf zu befühlen. Aber der Schmerz in seiner Schulter ließ ihn zurückzucken.
Er wartete einen Moment, dann versuchte er es mit dem linken Arm. Vorsichtig betastete er mit den Fingerspitzen seinen Kopf.
Aber statt Haut und Haaren spürte er
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