Ein allzu schönes Mädchen
hatte. Für die Fahndung
hatten sie nur einen Ausschnitt daraus verwendet. Die ganze Aufnahme zeigte eine Szene irgendwo am sommerlichen Strand. Links
im Vordergrund waren der Kopf und ein Stück des Oberkörpers von Marie-Louise Geissler zu sehen. Rechts hinter ihr und sehr
viel kleiner sah man ihren jüngeren Bruder, der eine Grimasse schnitt. Er saß unter einem Sonnenschirm. Darüber ein blauer
Himmel mit wenigen Wolken.
Marthaler legte die Aufnahme vor ihr auf den Tisch. Sie schaute sie lange an. Unendlich lange, fand Marthaler. Als er schon
nicht mehr mit einer Reaktion rechnete, erschien auf ihrem Gesicht ein Lächeln.
Kerstin Henschel und Marthaler sahen einander an. Kerstin hob die Augenbrauen und nickte. Sie deutete dieses Lächeln genau
wie er. Marie-Louise Geissler hatte sich auf dem Foto wieder erkannt. Vielleicht sogar ihren Bruder. Auch wenn es wie die
Erinnerung an eine andere Zeit, an ein anderes Land und an ein anderes Leben wirkte.
«Gut», sagte Marthaler. «Sie sind also Marie-Louise Geissler. Ich werde Ihnen jetzt erklären, was man Ihnen vorwirft. Es |429| besteht der dringende Verdacht, dass Sie zwei junge Männer im Frankfurter Stadtwald durch zahlreiche Messerstiche getötet
haben: Bernd Funke und Jochen Hielscher. Wenige Tage später, den Todeszeitpunkt müssen wir noch genauer bestimmen, haben Sie
den Journalisten Georg Lohmann in einem Zimmer des Hotels ‹Frankfurter Hof› auf dieselbe Weise und wahrscheinlich mit derselben
Waffe umgebracht.»
Die Miene der jungen Frau war wieder so leblos wie zuvor. Sie schaute aus dem Fenster in den Himmel und schwieg.
«Sie müssen sich nicht zu diesen Vorwürfen äußern. Sie haben jederzeit das Recht, einen Anwalt zu konsultieren. Sollten Sie
keinen Anwalt kennen, können wir Ihnen gerne eine Liste mit ortsansässigen Strafverteidigern vorlegen.»
Noch während er sprach, merkte Marthaler, dass seine Worte die Frau nicht erreichten. Trotzdem versuchte er es noch einmal.
«Diese Vernehmung dient der Aufklärung des Sachverhaltes. Wenn Sie etwas vortragen wollen, das Sie entlasten könnte, so dürfen
Sie das tun.»
Aber entweder verstand sie ihn nicht, oder sie tat so, als würde sie ihn nicht verstehen. Seine Ungeduld wuchs. Plötzlich
schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Alle im Raum zuckten zusammen.
«Sie verstellen sich», schrie er. «Ich habe gesehen, wie Sie mit dem Mann vor dem Café in der Sonne gesessen haben. Sie haben
mit ihm geplaudert. Sie waren entspannt. Sie haben sich von ihm einladen lassen. Sie haben mit ihm geflirtet. Wenn wir nicht
hinzugekommen wären, wäre dieser Mann vielleicht Ihr nächstes Opfer geworden. Also versuchen Sie jetzt bitte nicht, uns hier
die Idiotin vorzuspielen.»
Es war Kerstin Henschel, die seinen Wutanfall stoppte. Sie stand auf und legte ihm die Hand auf den Oberarm.
«Komm», sagte sie, «ich muss mit dir reden.»
Sie verließen das Büro und gingen ins Vorzimmer. Sie baten |430| die beiden Schutzpolizisten, die Bewachung der Beschuldigten zu übernehmen.
«So geht das nicht», sagte Kerstin Henschel. «Du kannst hier nicht rumschreien. Erstens widerspricht das allen Regeln einer
Vernehmung. Und zweitens werden wir damit gar nichts erreichen. Sie hat nur kurz gezuckt, als du Krach geschlagen hast. Das
war aber auch alles. Du wirst sie nicht beeindrucken, indem du hier den wilden Mann spielst. Eher wird sie sich noch weiter
zurückziehen.»
Marthaler nickte. «Vielleicht ist sie wirklich so verwirrt, vielleicht zieht sie aber auch nur eine Show ab. Dann wäre sie
allerdings eine glänzende Schauspielerin, das muss ich zugeben.»
Im Stillen ärgerte er sich bereits selbst, dass er sich wieder einmal hatte hinreißen lassen.
«Was sollen wir tun?», fragte er.
«Den größten Erfolg hatten wir, als du ihr das Foto vorgelegt hast. Ich frage mich, ob wir ihr nicht einfach die Aufnahmen
von den Tatorten zeigen sollten. Wenn das nichts bringt, weiß ich allerdings auch nicht weiter.»
Marthaler fand den Vorschlag ebenso nahe liegend wie gut. Und er schrieb es seiner Ungeduld zu, dass er nicht selbst auf diese
Idee gekommen war.
«Aber zuerst sollten wir etwas essen», sagte er. «Ich habe bereits Kopfschmerzen vor Hunger. In der Kantine wird es nichts
mehr geben. Ich bestelle uns etwas beim Pizza-Service. Du kannst in der Zwischenzeit die Fotos heraussuchen.»
«Gut», sagte Kerstin Henschel. «Aber um eins möchte ich dich noch
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