Ein allzu schönes Mädchen
bitten: Sag nichts, wenn wir ihr die Bilder zeigen. Provozier
sie nicht mit irgendwelchen Kommentaren. Lass uns einfach sehen, wie sie darauf reagiert. Ich glaube, es hat keinen Zweck,
ihr weitere Fragen zu stellen.»
|431| Zwanzig Minuten später kam das Essen. Eine große Schale Pommes frites und eine Familien-Pizza. Marthaler stellte die Mahlzeit
auf den Tisch, verteilte die Pappteller und das Plastikbesteck.
Zur großen Verwunderung der Polizisten stürzte sich Marie-Louise Geissler wie ein ausgehungertes Tier über das Essen. Sie
ignorierte das Besteck, griff mit beiden Händen in den Berg fettiger Kartoffelschnitze und stopfte sich gleich darauf zwei
Pizza-Dreiecke in den Mund. Zum ersten Mal, seit sie hier zusammensaßen, zeigte sie so etwas wie innere Erregung. Was die
Vorhaltungen Marthalers nicht vermocht hatten, schien allein der Anblick der Nahrung in ihr auszulösen. Weder scherte sie
sich um irgendwelche Tischmanieren noch um ihr graues Kostüm. Als sie keinen Hunger mehr hatte, war ihr Mund verschmiert wie
der eines kleinen Kindes. Die Hände wischte sie sich, ohne zu zögern, an ihrem Rock ab. Kurz danach saß sie wieder aufrecht
auf ihrem Stuhl und verfiel in dasselbe stumpfe Brüten wie zuvor.
Kerstin Henschel wusch sich die Hände. Dann begann sie die Fotos vor Marie-Louise Geissler auszubreiten. Zuerst die Aufnahmen,
die die Spurensicherung am Fundort von Bernd Funkes Leiche gemacht hatte. Marthaler vermied es, sich erneut dem Anblick der
Bilder auszusetzen. Er stand auf der Gegenseite des Tisches und versuchte, sich auf das Gesicht der jungen Frau zu konzentrieren.
Zunächst war ihr nichts anzumerken. Ihr Blick, der zwischen den Fotos hin- und hersprang, blieb vollkommen unbeteiligt. Erst
als sie sich eine Aufnahme ansah, auf der lediglich der unnatürlich nach hinten verrenkte Kopf des Getöteten zu sehen war,
wurden ihre Lippen eine Spur schmaler.
Marthaler entging die Reaktion nicht, aber er wusste sie nicht zu deuten.
Vielleicht war sie einfach entsetzt über den grässlichen Zustand |432| des Leichnams. Das musste nichts heißen. So wäre es jedem unbeteiligten Betrachter ebenfalls ergangen.
Dann zeigten sie ihr die Bilder, die ihnen die Gerichtsmedizin zur Verfügung gestellt hatte. Zu sehen waren Detailaufnahmen
des nackten Körpers von Jochen Hielscher, der auf dem Tisch im Seziersaal lag. Man sah die Stichwunden in der vom Wasser aufgeschwemmten
Haut. Man sah den geschundenen Körper von vorn und von hinten. Ganz zum Schluss legte Kerstin Henschel ein Foto Hielschers
auf den Tisch, bei dem man fast den Eindruck haben konnte, es zeige den Kopf eines Schlafenden. Marthaler merkte, wie Marie-Louise
Geisslers Aufmerksamkeit wuchs.
Endlich hatte er einen Einfall. Es waren offensichtlich nicht die grausamen Einzelheiten der Tat, die ihr Interesse weckten.
Es waren die Gesichter der Opfer, bei denen sie reagierte.
Er ging zum Schreibtisch, öffnete erneut die Schublade und entnahm ihr zwei weitere Fotos. Auf dem einen waren Bernd Funke
und Jochen Hielscher zu sehen. Sie hatten einer den Arm auf die Schulter des anderen gelegt und grinsten frech in die Kamera.
Das andere war das Porträt von Hendrik Plöger, das Walter Schilling in dessen Wohnung konfisziert hatte.
Marthaler schob alle anderen Fotos beiseite und legte nur diese beiden vor Marie-Louise Geissler auf den Tisch. Ihre Reaktion
kam so überraschend wie plötzlich. Sie starrte die Bilder an. Ihr Blick wechselte aufgeregt von einem zum anderen. Ihr Atem
beschleunigte sich. Sie begann zu schnaufen.
Sie sahen, wie ihr Körper anfing zu zittern. Unvermittelt griff sie nach dem kleinen Plastikmesser, das noch immer unbenutzt
vor ihr auf dem Tisch lag, und stach auf eines der Fotos ein. Es war das Doppelporträt von Funke und Hielscher. Immer wieder
stach sie in die Gesichter.
Kerstin Henschel war aufgesprungen und wollte ihr in den |433| Arm fallen, aber Marthaler gab ihr ein Zeichen, nichts zu unternehmen.
Als Marie-Louise Geissler endlich erschöpft und heftig schluchzend über dem Tisch zusammensackte, ging er zu ihr und entwand
ihrer Hand den Rest des inzwischen zerbrochenen weißen Plastikmessers.
Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, rief Marthaler die beiden Uniformierten herein. Sie sollten sie in eine Zelle bringen.
«Was war das jetzt?», fragte er, als sie allein waren. «Ein Geständnis?»
Seine Frage war sowohl an Elvira als auch an Kerstin Henschel
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