Ein allzu schönes Mädchen
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auf und suchte nach dem Ortsnamen. Er merkte, dass Tereza ihn anschaute. Er lächelte ihr zu, dann ging er zurück in die Küche.
Mit dem Zeigefinger suchte er auf der Karte das angegebene Planquadrat ab. Dann hatte er das Dorf gefunden. Es war, wie er
vermutet hatte. Der Ort Hotzwiller lag nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt, wo der Wagen der Geisslers vor anderthalb
Jahren an einer Buche zerschellt war.
Er holte das Telefon und wählte die Nummer, die der Mann hinterlassen hatte. Er ließ es lange klingeln, aber es meldete sich
niemand. Er nahm an, dass es sich um die Nummer des Bürgermeisteramtes handelte, das um diese Zeit nicht mehr besetzt war.
Dann versuchte er, Kamphaus zu erreichen. Er war überrascht, als bereits nach dem zweiten Läuten abgenommen wurde. «Ich bin’s.
Robert. Kannst du mir einen Gefallen tun?»
Er merkte, dass Kamphaus zögerte. «Man sagt: Hallo, wie geht’s? Man sagt: Danke für deine Hilfe. Man sagt: Entschuldige, dass
ich so überstürzt wieder aus Saarbrücken abgereist bin, ohne mich zu verabschieden.»
Marthaler wollte gerade ansetzen, sich zu entschuldigen, als ihm Kamphaus das Wort abschnitt.
«Schon gut. Also: Was kann ich diesmal für dich tun?»
«Du müsstest dir nochmal die Akten im Fall Geissler kommen lassen.»
«Nicht nötig. Die stehen noch hier, wo du sie hinterlassen hast.»
«Umso besser», sagte Marthaler. «Dann schau doch bitte etwas nach. Es gab den Hinweis einer Frau, die behauptet hat, |440| Marie-Louise Geissler auf einem Dorffest im Elsass gesehen zu haben.»
«Daran kann ich mich nicht erinnern», sagte Kamphaus. «Und glaub mir: Ich kenne die Akten fast auswendig.»
«Das kann sein. Aber ich glaube mich zu entsinnen, dass dieser Anruf erst kam, als ihr die Suche bereits aufgegeben hattet.»
«Soll ich dich zurückrufen?»
«Nein, ich warte.»
Marthaler hörte, wie Kamphaus den Hörer auf den Schreibtisch legte und in den Unterlagen blätterte. Dann war er wieder am
Telefon. «Was willst du wissen? Die Adresse der Anruferin?»
«Nein. Ich will wissen, wie das Weindorf hieß. War es Hotzwiller?»
Für einen Augenblick herrschte Stille.
«Was ist», fragte Marthaler, «bist du noch dran?»
Kamphaus stieß einen leisen Pfiff aus.
«Alle Achtung, mein Lieber», sagte er. «Das ist ein Volltreffer. Jetzt rück aber bitte raus mit der Sprache.»
Marthaler erzählte, was in den letzten Tagen passiert war. Wie sie der Gesuchten immer näher gekommen waren und sie schließlich
verhaftet hatten. Er erzählte auch von der seltsamen Vernehmung am Nachmittag.
«Und», fragte Kamphaus, «was macht sie auf dich für einen Eindruck? Ist sie wirklich so schön, wie alle sagen?»
«Ja», sagte Marthaler, «das ist sie. Sie ist von einer Schönheit, die einen wie mich sofort einschüchtert. In der Schule gab
es auch manchmal so ein Mädchen, vor dem fast alle Jungen in die Knie gingen, vor dem ich aber Angst hatte. Kennst du das?
Aber da ist noch etwas anderes. Ich weiß nicht genau, wie ich es besser ausdrücken soll: Sie ist Mitleid erregend schön.»
|441| «Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.»
«Ich hatte eine unglaubliche Wut auf sie, auf alles, was sie getan hat. Und trotzdem wünschte ich, dass sie unschuldig wäre.»
Marthaler war überrascht über seine eigenen Worte. Er hatte Kamphaus gegenüber etwas eingestanden, was er sich bis zu diesem
Moment nicht einmal selbst klargemacht hatte. «Erinnerst du dich noch an unser Psychologie-Seminar? Dort haben wir die Geschichte
eines Mannes gelesen, der alles zerstören musste, was schön war, der sich alles Schöne einverleiben musste.»
«Ja», sagte Kamphaus. «Grubetsch hieß der Mann. Aber ich habe vergessen, wer die Geschichte geschrieben hat.»
«Ich glaube, Marie-Louise Geissler ist eine Frau, die Männer wie diesen Grubetsch magisch anlockt», sagte Marthaler.
«Und wie geht es jetzt weiter?», fragte Kamphaus.
«Ich wollte dich bitten, dass du einen deiner Leute mal in das Dorf im Elsass schickst. Er könnte mit dem Bürgermeister sprechen.
Vielleicht bekommen wir noch ein paar Informationen, die uns weiterhelfen.»
«Ich habe dieses Mädchen monatelang gesucht», erwiderte Kamphaus. «Da glaubst du doch nicht, dass ich einen meiner Leute schicke.
Das erledige ich selbst. Ich werde gleich morgen fahren.»
«Gut. Und melde dich bitte sofort, wenn du etwas herausbekommen hast.»
Einen Moment lang schien keiner der beiden Polizisten
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