Ein allzu schönes Mädchen
merkte, dass die beiden es nicht nötig hatten, einander oder jemand anderem etwas zu beweisen.
Und wie das Haus, so mochte Marthaler auch den Ton, der zwischen den Eheleuten herrschte, die Vertrautheit und Zuneigung,
die aus jedem ihrer Worte sprach. Das alles erinnerte ihn an seine Kindheit und an seine Eltern, die ihm so viel Rückhalt
und Stabilität geboten hatten. Ohne das, dachte er oft, hätte er seinen Beruf wohl kein halbes Jahr aushalten können. Er wusste,
wie viel Glück er gehabt hatte, wie selten das |213| war. Wie viele Menschen durch die Welt liefen, die niemals etwas Vergleichbares kennen gelernt hatten. Und selbst eine glückliche
und behütete Kindheit war kein Garant dafür, dass man nicht in späteren Jahren in eine Situation geriet, die einen aus der
Bahn warf. Er dachte an Sandra Gessner, die sehr liebevoll von ihren Eltern gesprochen hatte, die aber einen Mann geheiratet
hatte, der ihr das Leben zur Hölle machte, sodass sie jetzt keine andere Lösung wusste, als sich mit ihrem kleinen Sohn vor
ihm zu verstecken.
«Was ist los, Alter? Bläst du schon wieder Trübsal?» Sabatos Stimme riss Marthaler aus seinen Gedanken. «Komm her, schau dir
das an!»
Sabato führte seinen Kollegen von der Terrasse in den großen Garten. Das Grundstück lag am Hang, und sie konnten zwischen
den alten Obstbäumen hindurch bis weit in den Taunus blicken. Am Horizont sahen sie den Großen Feldberg mit seinem Turm.
Langsam setzte die Abenddämmerung ein. Wieder war es den ganzen Tag überaus heiß gewesen, aber jetzt kam ein wenig Wind auf,
und die Blätter fächelten zwischen den Zweigen. Sabato wies hierhin und dorthin. Jede Blume, jeden Strauch, jedes kleine Kräuterbeet
sollte Marthaler bewundern. Er bekam Pflanzennamen genannt, die er noch nie gehört hatte und die er sofort wieder vergessen
würde. Trotzdem hörte er gerne dem Singsang der tiefen Stimme Sabatos zu.
Das Haus hatte Elenas Eltern gehört, die es in den frühen sechziger Jahren für wenig Geld gekauft hatten. Inzwischen war Elenas
Mutter tot, und ihr Vater lebte seit langem in einem Pflegeheim in der nahe gelegenen Wetterau. Wenn es sein Gesundheitszustand
zuließ, holte ihn die Tochter übers Wochenende zurück in sein altes Zuhause, wo noch immer ein Zimmer für ihn reserviert war.
|214| «Ich werde ihn Anton nennen», sagte Carlos Sabato.
«Wen wirst du Anton nennen?»
«Na hör mal, den Kater natürlich. Anton wie Anton Tschechow, der russische Dichter.»
Marthaler nickte. Er erinnerte sich. Katharina hatte ihm vor vielen Jahren einmal Tschechows Erzählung «Die Dame mit dem Hündchen»
vorgelesen. Eine traurige, aber wunderschöne Geschichte.
«Komm», sagte Sabato, «es wird Zeit für den Grill.»
In der Mitte des Gartens befand sich eine ummauerte Feuerstelle, darüber stand ein dreifüßiges Gestell, zwischen dem, an einer
Kette befestigt, der runde Grillrost hing. Sabato hatte bereits trockenes Holz aufgeschichtet, das er jetzt nur noch anzünden
musste. Dann bat er Marthaler, sich in einen der Korbstühle zu setzen, und ging zurück ins Haus. Kurz darauf kam er wieder
mit einem Tablett, auf dem sich in Knoblauch und Olivenöl eingelegte Hähnchenschenkel, marinierte Schweinerippchen und rote
Paprikawürste türmten. Elena brachte zwei Flaschen Ribera del Duero und einen noch lauwarmen spanischen Kartoffelsalat, den
sie auf die Schnelle bereitet hatte. Während das Grillgut langsam garte, merkte Marthaler, wie die Anspannung allmählich von
ihm abfiel. Sie prosteten einander zu, tranken und lachten, dann servierte Sabato die ersten Chorizo-Hälften, die er zuvor
mit Apfelwein abgelöscht hatte.
Marthaler wunderte sich über seinen unmäßigen Appetit. Er konnte nicht genug bekommen von dem deftigen Essen. Er tauchte die
Costillos, wie Elena die Rippchen nannte, in eine Vinaigrette aus Sherry, Essig, Öl und klein gehackten roten Zwiebeln, knabberte
anschließend noch zwei Hähnchenschenkel bis auf die Knochen ab und ließ sich schließlich zufrieden in seinen Sessel sinken.
Er hörte zu, wie Elena von ihrer Kindheit in einem galizischen Fischerdorf erzählte, und |215| sah im Westen langsam die Sonne hinter den bewaldeten Hügeln verschwinden.
Als es längst dunkel geworden war und Elena sich verabschiedet hatte, um ins Bett zu gehen, saßen er und Sabato noch lange
beieinander und plauderten ziellos über dies und jenes. Beide vermieden es sorgsam, über den Fall und die
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