Ein allzu schönes Mädchen
beschreibt ihn als einen sympathischen, etwas schüchternen jungen Mann. Wo er sich aufhält, wissen wir
nicht.»
«Hat Jörg Gessner von dem Verhältnis zwischen Bernd Funke und seiner Frau gewusst?», fragte Manfred Petersen.
«Ob er etwas gewusst hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht hat er etwas geahnt. Dass sie ihm untreu sein
könnte, war wohl nicht seine größte Sorge. Denn kurz nachdem sie geheiratet haben, hat er sogar versucht, sie zu überreden, |205| für ihn als Callgirl zu arbeiten. ‹Mit wem du schläfst, ist mir egal, wenn du allerdings vorhast, mich zu verlassen, werde
ich dich umbringen›, hat er angeblich gesagt. Sandra hat diese Drohung wohl sehr ernst genommen.»
Marthaler versuchte, seinen Kollegen das Gespräch mit Sandra Gessner so präzise wie möglich wiederzugeben. Er wollte, dass
sie sich ein genaues Bild von der Frau machen konnten. Dass sie etwas von der Atmosphäre begriffen, die sie umgab, und von
den Schwierigkeiten, in denen sie sich befand.
«Und wie hat Sandra Gessner die Nachricht vom Tod Bernd Funkes aufgenommen?», wollte Kerstin wissen.
«Gefasst, wie man so sagt. Ich denke, Funke war wirklich nur eine Zuflucht für sie. Vor allem wollte sie von Gessner loskommen.»
«Meinst du, sie traut ihrem Mann zu, Funke umgebracht zu haben?»
«Das habe ich sie auch gefragt. Sie war sich unsicher. Sie traue ihm inzwischen alles zu, hat sie gesagt. Aber er sei nur
brutal, wenn er damit etwas erreichen könne. Nie jedoch, wenn er wütend sei. Er sei sehr kalt, sehr kontrolliert. Jedenfalls
behauptet sie, seit Mitte letzter Woche weder etwas von Bernd Funke noch von Jörg Gessner gehört zu haben. Sie habe am Freitagabend
mit ihrem Sohn die gemeinsame Wohnung verlassen und seitdem bei einer alten Schulfreundin übernachtet.»
«Mein Gott, was für Zustände», sagte Kai Döring. «Ehrlich gesagt ist mir das alles zu kompliziert. Warum lässt sie sich mit
so einem Typen überhaupt ein?»
Marthaler lachte. Er wusste, dass Döring kein begeisterter Psychologe war. Es lag ihm nicht, die Gefühlsschwankungen anderer
Menschen nachzuvollziehen. Lieber, als über Motive zu spekulieren, suchte er nach den Tätern und nach Beweisen, die die Täter
überführten.
|206| «Du hast Recht», sagte Marthaler. «Wir sollten uns nicht verwirren lassen. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was jetzt
zu tun ist.»
Er nahm erneut die Kreide zur Hand und malte je einen Kreis um vier der Namen, die an der Tafel standen.
«Wir müssen so schnell wie möglich Jörg Gessner finden. Immerhin können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausschließen,
dass er der Täter ist. Wir müssen herausbekommen, wo sich Hendrik Plöger aufhält. Wir müssen Näheres über diesen Jo erfahren.
Wer ist er? Wo ist er? Sandra Gessner kannte auch nur seinen Vornamen. Sie sagt, sie habe ihn ein- oder zweimal gesehen. Er
sei klein und hässlich und habe eine lange, auffällige Narbe am Hals. Vielleicht haben wir Glück, und Schillings Leute finden
einen Hinweis auf ihn in Hendrik Plögers Wohnung. Und ich will endlich wissen, wer die junge Frau ist, die im Auto mit den
drei anderen gesehen wurde.»
Kai Döring meldete sich erneut zu Wort. Marthaler war froh, zusammen mit ihm an diesem Fall arbeiten zu können. Ihm gefiel
die forsche, direkte Art des jüngeren Kollegen. Auch wenn dieser Wesenszug ihm selbst fremd war, schätzte er ihn bei anderen
durchaus.
«Ich finde», sagte Döring, «dass wir mit den ersten drei Namen genug zu tun haben. Diese fremde Schönheit, die kein Mensch
kennt, bringt uns im Augenblick nicht weiter. Wenn ich recht verstanden habe, hat außer dem Zeugen an der Tankstelle niemand
sie gesehen. Keiner weiß, um wen es sich bei dieser Frau handelt. Es könnte doch sein, dass sie einfach eine Anhalterin war,
die ein Stück in dem Spider mitgenommen werden wollte und irgendwann wieder ausgestiegen ist.»
Marthaler sah reihum in die Gesichter der Kollegen. Er versuchte, die Blicke zu deuten. Er merkte, dass alle geneigt waren,
Döring Recht zu geben. Womöglich war er es selbst, der sich irrte. Womöglich war er im Begriff, die Ermittlungen |207| zu überfrachten, indem er darauf beharrte, dass auch dieser Punkt geklärt wurde.
«Vielleicht war es, wie Kai sagt. Vielleicht spielt diese Frau für unseren Fall keine Rolle. Vielleicht liegt die Lösung tatsächlich
im näheren Umfeld des Opfers. Andererseits wissen wir, dass Bernd
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